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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies
Autoren: Patrick Ness
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Lichtstrahl fällt auf sein Gesicht. Ich sehe ein blau angeschwollenes Auge und eine aufgeschlagene Lippe, die frisch verschorft ist. Offenbar hat man für ihn keinen Verband übrig gehabt. »Ist schon komisch, dass man so schnell vergisst, wie laut es ist«, sagt er mehr zu sich selbst.
    Er ist ein kleiner Mann, kleiner als ich und auch dicker, älter als Ben, wenn auch nicht viel. Aber er ist schwach, sogar seine Gesichtszüge scheinen weich. Wenn es sein muss, könnte ich ihn überwältigen.
    »Ja«, sagt er, »ich vermute, das könntest du.«
    »Wer bist du?«, frage ich wieder.
    »Wer ich bin?«, wiederholt der Mann leise meine Frage, dann fährt er lauter fort: »Ich bin Con Ledger, mein Junge. Der Bürgermeister von Haven.« Er lächelt unbeholfen. »Aber nicht der Bürgermeister von New Prentisstown.« Er schüttelt den Kopf. »Wir haben sogar den Flüchtlingen das Medikament gegeben, als immer mehr von ihnen kamen.«
    Und dann bemerke ich, dass sein Lächeln in Wirklichkeit gar kein Lächeln ist, sein Gesicht ist schmerzverzerrt .
    »Guter Gott, Junge«, sagt er, »was für einen Lärm du da machst!«
    »Ich bin kein Junge mehr«, entgegne ich und halte meine Fäuste hoch.
    »Ich verstehe überhaupt nicht, was für eine Rolle das spielen soll.«
    Mir liegen zehn Millionen Dinge auf der Zunge, die ich ihm sagen will, aber meine Neugier behält die Oberhand. »Also gibt es doch ein Mittel gegen den Lärm?«
    »Aber ja«, sagt er und verzieht sein Gesicht, als hätte er auf etwas Verdorbenes gebissen. »Eine heimische Pflanze mit einem neurochemischen Wirkstoff, angereichert mit ein paar anderen Zutaten, die wir künstlich herstellen konnten, und das war’s auch schon. Von da an kehrte Ruhe in New World ein.«
    »Nicht überall in New World.«
    »Nun ja«, sagt er und blickt durch die rechteckige Öffnung hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Das Medikament ist schwierig herzustellen, musst du wissen. In einem langwierigen, zeitraubenden Verfahren. Vollständig beherrschen wir diese Methode erst seit letztem Jahr, und das, nachdem wir zwanzig Jahre herumexperimentiert haben. Wir haben genügend davon für uns selbst hergestellt, und gerade als wir es anderen zugänglich machen konnten, da …« Er bricht ab und blickt angestrengt auf die Stadt.
    »… da habt ihr euch kampflos ergeben«, vollende ich den Satz und mein Lärm wird zu einem leisen roten Grollen. »Wie Feiglinge.«
    Jetzt ist das schmerzverzerrte Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden, es ist wie weggewischt. »Weshalb sollte ich auf die Meinung eines Jungen etwas geben?«
    »Ich bin kein Junge mehr«, wiederhole ich. Meine Fäuste, sind sie noch geballt? Ja, sie sind noch geballt.
    »Natürlich bist du noch ein Junge«, sagt er, »denn ein Mann wüsste, welche Entscheidungen er treffen muss, wenn es ums nackte Überleben geht.«
    Ich kneife die Augen zusammen. »Was das nackte Überleben angeht, kannst du mir sicher nichts Neues beibringen.«
    Er blinzelt, blickt hinein in meinem Lärm, der ihn wie grelle Blitze blendet, sieht, dass ich die Wahrheit sage, und da wird er versöhnlicher. »Verzeih mir«, sagt er. »Ich bin nicht mehr ich selbst.« Er reibt sich mit der Hand übers Gesicht, fährt über die schmerzende Wunde an seinem Auge. »Gestern noch war ich der freigebige Bürgermeister einer wunderschönen Stadt.« Er scheint über einen Witz zu lachen, den nur er versteht. »Aber das war gestern.«
    »Wie viele Bewohner hat Haven?«, frage ich, denn so leicht soll er mir nicht davonkommen.
    Er schaut mich an. »Junge …«
    »Mein Name ist Todd Hewitt«, unterbreche ich ihn. »Du kannst auch Mr Hewitt zu mir sagen.«
    »Er hat uns einen neuen Anfang versprochen.«
    »Sogar ich weiß, dass er ein Lügner ist. Wie viele Bewohner hat die Stadt?«
    Er seufzt. »Mit den Flüchtlingen sind es dreitausenddreihundert.«
    »Das sind dreimal so viele, wie in der Armee sind«, sage ich. »Ihr hättet kämpfen können.«
    »Frauen und Kinder«, sagt er. »Bauern.«
    »In den anderen Städten haben Frauen und Kinder gekämpft. Dabei sind viele Frauen und Kinder gestorben.«
    Er tritt einen Schritt vor und sagt hitzig: »Ja, und jetzt werden die Frauen und Kinder dieser Stadt eben nicht sterben. Denn ich habe Frieden für sie ausgehandelt!«
    »Einen Frieden, der dir ein blaues Auge beschert hat«, erwidere ich. »Einen Frieden, in dem du dir eine aufgeplatzte Lippe eingehandelt hast.«
    Er betrachtet mich einen Augenblick lang, dann
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