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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies
Autoren: Patrick Ness
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schnaubt er traurig. »Das sind Worte eines Weisen aus dem Mund eines Toren.«
    Er dreht sich um und blickt wieder hinaus.
    Ich höre ein leises Summen.
    Mein Lärm ist ein einziges Fragezeichen, aber bevor ich den Mund aufmachen kann, sagt der Bürgermeister, der ehemalige Bürgermeister: »Ja, ich bin es, den du hörst.«
    »Du?«, frage ich. »Und was ist mit dem Medikament?«
    »Würdest du einem besiegten Feind das Medikament geben, das er am meisten braucht?«
    Ich fahre mir mit der Zunge über die Oberlippe. »Er kommt wieder, der Lärm?«
    »Oh ja. Wenn man nicht täglich seine Dosis nimmt, kommt er mit tödlicher Sicherheit zurück.« Er geht in seine Ecke und setzt sich langsam hin. »Du wirst feststellen, dass es hier keine Toiletten gibt«, sagt er. »Ich entschuldige mich im Voraus für die Unannehmlichkeiten.«
    Ich betrachte ihn, wie er so dasitzt, mein Lärm dröhnt noch immer zornesrot und schleudert Fragen.
    »Das warst doch du, wenn ich mich nicht irre?«, fragt er. »Heute Morgen. Für dich wurde die ganze Stadt geräumt. Zu deiner Begrüßung kam der neue Präsident höchstpersönlich angeritten.«
    Ich gebe ihm keine Antwort, umso lauter antwortet mein Lärm.
    »Wer bist du, Todd Hewitt?«, fragt Bürgermeister Ledger. »Was ist so besonders an dir?«
    Das, denke ich, ist eine wirklich gute Frage.
    Die Nacht bricht schnell herein. Im Nu ist alles schwarz. Bürgermeister Ledger wird immer schweigsamer, zugleich aber unruhiger, bis er es schließlich nicht mehr aushält und beginnt, auf und ab zu laufen. Ein Summen geht von ihm aus, das lauter und lauter wird. Wenn wir jetzt miteinander reden wollten, müssten wir nun fast schreien.
    Ich stehe an der Turmmauer und sehe zu, wie die Sterne langsam am Himmel erscheinen.
    Ich denke, und zugleich versuche ich, nicht zu denken, denn wenn ich denke, dreht sich mir der Magen um und mir wird übel, oder die Kehle schnürt sich mir zusammen und mir wird übel, oder mir schießen die Tränen in die Augen und mir wird übel.
    Denn irgendwo da draußen ist sie.
    (Bitte sei irgendwo dort draußen.)
    (Bitte sag, dass es dir gut geht.)
    (Bitte.)
    »Musst du denn immer so einen verdammten Lärm machen?«, schnauzt Bürgermeister Ledger. Ich drehe mich zu ihm um, will ihm etwas Unfreundliches antworten, aber dann seufzt er. »Tut mir leid.« Er hebt entschuldigend die Hände. »Ich bin sonst ganz anders.« Er fängt wieder an mit seinen fahrigen Bewegungen. »Es ist schwierig, wenn sie einem das Medikament von heute auf morgen wegnehmen.«
    Mein Blick schweift über die Dächer von New Prentisstown. In den Häusern gehen allmählich die Lichter an. Den ganzen Tag lang habe ich so gut wie niemanden draußen gesehen, alle bleiben in den Häusern, wahrscheinlich auf Befehl des Bürgermeisters.
    »Heißt das, all den anderen Menschen da unten ergeht es ebenso?«, frage ich.
    »Bestimmt hat jeder noch einen kleinen Vorrat zu Hause«, antwortet Bürgermeister Ledger. »Ich nehme an, man hätte ihnen das Mittel mit Gewalt entreißen müssen.«
    »Ich schätze, das wird kein Problem sein, wenn die Armee erst einmal hier ist«, sage ich.
    Die Monde sind aufgegangen, schleichen über den Himmel, als hätten sie alle Zeit der Welt. Ihr Licht ist stark genug, um ganz Prentisstown zu erhellen, und ich sehe den Fluss, der sich seinen Weg durch die Stadt bahnt, aber nördlich der Stadt gibt es fast nur noch Felder, die verlassen im Mondlicht liegen, dahinter ein steil aufragender Felsen, der das Tal im Norden begrenzt. Im Osten schlängeln sich der Fluss und die Hauptstraße um kleine Hügel, bis sich die Stadt in der Ferne allmählich zwischen ihnen verliert. Ich sehe noch eine andere Straße, sie ist schlecht gepflastert und führt vom großen Platz aus nach Süden, vorbei an großen Gebäuden und kleinen Häuschen durch einen Wald und dann einen Berg mit eingekerbtem Gipfel hinauf.
    Das ist alles, was es um New Prentisstown herum zu sehen gibt.
    Dreitausenddreihundert Menschen leben hier, sie alle haben sich in ihren Häusern versteckt, und in der Stadt herrscht eine Ruhe, als wären diese Leute schon tot.
    Kein Einziger hat auch nur einen Finger gerührt, um die Stadt und ihre Bewohner vor dem zu retten, was nun kommt. Die Menschen dachten: Wenn wir uns nur unterwürfig genug zeigen, wenn wir nur schwach genug sind, dann wird das Ungeheuer uns schon nicht verschlingen. Das ist der Ort, in den Viola und ich so lange all unsere Hoffnungen gesetzt haben.
    Unten auf dem Platz
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