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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr
Autoren: Curt Siodmak
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wissenschaftlichen Kongreß in Moskau zu halten. Kubatschew war einer der Organisatoren. Mich reizte es, sie anzusehen, denn die Russen, wie etwa Betschew und Vladimir Durow, hatten überaus interessante Experimente auf meinem Spezialgebiet veröffentlicht. Durow hatte Hunde dazu abgerichtet, telepathische Befehle auszuführen, und Betschew hatte ESP-Tests über große Entfernungen mit erstaunlichem Erfolg angestellt. Aber die Regierung bewilligte meine Reise nicht. Ich versuchte, mir Kubatschew aus dem Sinn zu schlagen …
    Reisende empfinden bei ihrer Ankunft in fremden Ländern eine unterdrückte Aufregung. Sie können sich nicht aufreizenden Sinneswahrnehmungen entziehen; Geräusche, Geschmacksnuancen, andere Tönungen des Lichts und der Dunkelheit wirken sich entscheidend auf ihre Gefühle aus. Ich fühlte mich fern dem subtropischen Klima Kaliforniens frei und glücklich, aber ein Rest der Angst blieb. Ich konnte mich nicht des Verdachts erwehren, daß Kubatschew Heinemanns Einladung eingefädelt hatte oder daß er vielleicht sogar hinter der versuchten Flugzeugentführung steckte.
    Während ich an der Lufthansa-Maschine vorbeiging, kam eine Gruppe von Reisenden, die ihr Handgepäck trug, schnurstracks auf mich zu, als hätten sie es auf mich abgesehen. Sie umringten mich und eilten dann woandershin.
    Ich fühlte mich durch die Sinnbildlichkeit dieses Auftauchens und Verschwindens jener nicht einzuordnenden Gruppe von Leuten plötzlich alarmiert. Wenn man ganz trivialen Vorfällen eine tiefere Bedeutung beizumessen beginnt, dann bricht der Verstand zur Irrationalität aus.
    Einer unserer Biochemiker, der seine Umgebung in der Klinik nicht ertrug, war in einen nebelhaften Irrgarten unheimlicher Selbsterkennung geraten, was vielleicht durch seinen Kontakt mit den zwar irrationalen, aber höchst beeindruckbaren Patienten ausgelöst wurde. Obwohl er Mitte Vierzig war – also in meinem Alter –, benahm er sich wie ein halbwüchsiger Junge. Er war von dem Wunsch besessen, den Grund für jeden Vorgang um ihn herum bis ins tiefere Detail zu erforschen. Da er seinen Kollegen mißtraute, sah er in jedem Wort, das er auffing, eine dunkle Verschwörung gegen sich selbst.
    Glich mein Zustand dem seinen? Freud benötigte acht Jahre, um sich selbst zu analysieren. Wie weit war ich schon? Ich bin nur dann fähig, meine Arbeit zu leisten, wenn ich mir der Beweggründe meiner Handlungen absolut bewußt bin.

3
     
    Ich reichte mein Einreiseformular und meinen Paß dem uniformierten Beamten, der mich flüchtig ansah und mein Gesicht mit dem verzerrten Foto in dem grünen Büchlein verglich. Er stempelte meinen Paß nicht; es gab keine Zollabfertigung. Mein Koffer – der Rest meines Gepäcks kam als Luftfracht – stand unter ein paar anderen Rückbleibsein auf einem Förderband. Ich nahm ihn und ging zum Ausgang.
    Ich trat in eine Halle mit Polsterbänken und niedrigen Tischen inmitten von Souvenirläden. Das Schaufenster eines Friseurs zeigte Perücken und Papierblumen; in einem anderen Schaufenster häuften sich Fotoapparate und Tonbandgeräte. Breite Treppen führten nach draußen, wo Omnibusse mit dem Schild „Flughafen Hamburg“ parkten, ohne sichtliche Anstalten zur Abfahrt zu machen. Über dem Ausgang stand: „Berlin ist eine Reise wert“, eine Ermahnung, dieses abgeschnittene Anhängsel Westdeutschlands nicht zu vergessen.
    Ich erfuhr jene leere Einsamkeit, die ein Reisender in einer fremden Stadt empfindet, und genoß dennoch die Loslösung von meinem bisherigen Leben. Ich war mit mir selbst im Frieden, ein mir unbekannter Geisteszustand. Wenn ich wollte, konnte ich ein Flugzeug nach Murmansk, auf die Lofoten, nach Tasmanien oder Dakar besteigen – weg von einer Welt, in die ich wie das Stück eines Puzzlespieles integriert gewesen war. Jetzt war ich anonym und konnte so lange wie ich wollte, inkognito bleiben.
    „Dr. Bolt. Dr. David Bolt! Bitte melden Sie sich am Schalter der Pan Am!“
    Wer kannte mich in dieser Stadt? Wollte die Polizei mich über die versuchte Flugzeugentführung verhören? Ich war nicht in der Stimmung, meine Anonymität lüften zu lassen und setzte meinen Weg zum Ausgang fort.
    „Dr. Bolt. Bitte melden Sie sich am Schalter der Pan Am. Dr. Bolt!“
    Töne fesselten mich wie Nylonschnüre. Mein Name drang aus den in allen Winkeln der Halle verborgenen Lautsprechern. Ich war immer noch an der Leine, samt Halsband und Kennmarke.
    „Dr. Bolt!“
    Ein Mädchen rannte die Treppe hinunter auf
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