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Das dritte Ohr

Das dritte Ohr

Titel: Das dritte Ohr
Autoren: Curt Siodmak
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die typischen Kurven für parioxikale oder rasche Augenbewegung – RAB –, die charakteristisch für jenes Schlafstadium ist, in dem Träume auftreten und das tiefer ist als der Langwellenschlaf.
    Wieder änderte die Nadel ihre Bewegung. Zwischen Ausbrüchen ultrahoher Frequenzen lagen Perioden fast völliger elektrischer Stille aus subkortikalen Bereichen, die von hochfrequenten Schwingungen aus dem Gehörzentrum abgelöst wurden. Kalyanamitras Gehirn übte die gleiche unbekannte Tätigkeit aus.
    Ich hatte ihn für eine Stunde ‚engagiert’, und er wachte auf die Minute pünktlich auf. Geldgierig, wie er war, überließ er mir nicht einmal Sekunden seiner Zeit umsonst. Nachdem er aus seiner Trance erwacht war, sah er mich forschend und dabei geheimnisvoll lächelnd an.
    Ich fragte ihn nach seinen Gedanken, die er während des Trancezustands gehabt hatte, in der Hoffnung, daß seine Antwort mir vielleicht einen Hinweis geben würde, warum der Registrator sich so seltsam aufgeführt hatte. Aber er war nicht zum Reden bereit und beantwortete meine Frage erst, nachdem ich ihm Geld dafür geboten hatte.
    „Dr. Bolt“, sagte er schließlich, „ich habe Sie in meiner Trance so deutlich gesehen, wie ich Sie jetzt vor mir sehe. Ich habe auch ihre Gedanken gelesen. Sie dachten an einen Mann namens Harrison, einen Gelehrten des Zen-Buddhismus. Sie haben ihn erst gestern getestet und seine Trance mit meiner, also der eines Fakirs verglichen. Dann sind Sie zu der Folgerung gekommen, daß ich imstande war, mein Nervensystem gegen alle Reize abzuschirmen. Danach wunderten Sie sich, warum Hunde jedesmal heulen, wenn ich in Trance sinke. Es ist ein merkwürdiges Phänomen – Hunde heulen, Vögel flattern auf, Katzen machen einen Buckel, in meinem Land richten sich sogar die Kobras auf. Tiere in der Nähe eines gedankenlesenden Fakirs reagieren als erste, dann folgen die anderen, wie bei einer Wellenbewegung. Die Kraft meines Verstandes scheint in Tieren, die empfänglich für Ausstrahlungen des Gehirns sind, Reaktionen auszulösen.“
    Darin irrte er sich, wie ich später entdeckte; aber zweifellos hatte Kalyanamitra übersinnliches Wahrnehmungsvermögen gezeigt. Ich hatte an Harrison gedacht, einen Kollegen von mir, der sich leidenschaftlich für Zen interessierte. Ich hatte sein Trancemuster mit dem des Yogis verglichen. Und ganz gewiß hatte ich mich gewundert, warum die Hunde mit verängstigtem Bellen reagierten. Ich nahm an, daß Kalyanamitras ESP-Fähigkeiten durch einen biochemischen Vorgang in seinem Nervensystem ausgelöst worden waren; irgendeine ätherische Verbindung, die von Menschen nicht gerochen werden konnte, aber auf die geruchsempfindliche Tiere reagierten, spielte bei der Hervorrufung dieser Fähigkeiten eine Rolle. Wenn ich diesen unbekannten, flüchtigen chemischen Stoff aufspüren konnte, würde ich in der Lage sein, übersinnliche Wahrnehmungen zu ermöglichen, so wie LSD Halluzinationen hervorruft.
    Ich erklärte Kalyanamitra diese Theorie, aber statt seine Neugier zu erwecken oder seine Unterstützung zu gewinnen, entsetzte ihn der Gedanke. Zu meinem Erstaunen weigerte er sich, weitere Experimente über sich ergehen zu lassen, und nicht einmal ein neues Geldangebot vermochte ihn von seinem Entschluß abzubringen.
    „Ich möchte Ihnen dringend raten, diese Forschungen nicht fortzusetzen, Dr. Bolt“, sagte er beschwörend. „Ohne die geistige Disziplin des Ostens werden Sie nur Verheerung und Verwüstung anrichten. Als Yogi darf ich das Karrna – die ethische Konsequenz einer solchen Handlung – nicht geschehen lassen! Diese Schuld würde für immer auf meiner Seele lasten. Um die Wucht übersinnlicher Wahrnehmungen ertragen zu können, muß der Mensch einen höheren Grad der Verantwortung und des Bewußtseins erreichen. Man darf nicht einfach den Menschen ein ‚drittes Ohr’ – einen sechsten Sinn – verleihen, denn sonst stört man das geistige Gleichgewicht und zerstört die Gesellschaftsstruktur.“
    Ich hatte mich selbst gedrillt, keinen Rückzieher vor den möglichen Folgen aufsehenerregender wissenschaftlicher Phänomene zu machen, wie etwa Kalyanamitras Fähigkeit, Gedanken zu lesen. Damals interessierten mich ausschließlich die wissenschaftlichen Aspekte und sonst nichts.
    „Ich bin Biochemiker und kein Soziologe“, sagte ich zu dem Inder. „Gesellschaftliche Zustände interessieren mich nicht. Bisher hat noch jede fortschrittliche Entdeckung des Menschen ihren Platz in der
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