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Das Buch Rubyn

Das Buch Rubyn

Titel: Das Buch Rubyn
Autoren: John Stephens
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von Wilamena. Aber Michael wusste, wer er war.
    Die Sekunden vergingen. Michael war sich klar darüber, dass er gehen musste, aber er wollte seine Schwester nicht verlassen. Er konnte nicht. Das alles war zu viel für ihn: der Verlust von Kate, die Begegnung mit seinem Vater, die Erschöpfung nach den Ereignissen am Vulkan, und nun noch sein Kampf gegen das Gift des grässlichen Magnus. Er hatte keine Kraft mehr; da war nichts mehr, woran er sich aufrichten konnte.
    Und dann schien etwas in seiner Brust aufzubrechen, und all die Gefühle, die er monatelang in sich aufgestaut hatte – die Schuld, die Traurigkeit und die Scham –, flossen aus ihm heraus.
    Michael legte seinen Kopf auf das aufgeschlagene Buch und weinte.
    Dann – vielleicht nach ein paar Sekunden, vielleicht nach einer halben Ewigkeit – hörte er ein merkwürdiges Zischen. Michael hob den Kopf und wischte sich über die Augen. Seine Tränen waren auf die Buchseite gefallen, wo sie zischten und tanzten wie Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte. Und nicht nur das: Das Buch selbst – Michael traute seinen Augen kaum – stand in Flammen. Rote Feuerzungen leckten um die Kanten des Einbands, krochen über die Seite, aber das Buch und Michaels Hand, die auf der Seite lang, blieben unbeschädigt. Michael zog die Hand weg und die Flammen erstarben.
    Einen Moment lang war er zu verblüfft, um überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können.
    Dann erbebte der Turm erneut, die Glocken schlugen scheppernd aneinander, und in sein Gehirn kam wieder Leben. Er dachte an die Flammenzungen, die in den Einband geprägt waren, an die Buchstaben, die auf der Seite glommen und rauchten, wenn er jemandes Namen schrieb; er dachte an die Worte des Zauberers: In dir brennt ein Feuer.
    Hatte er die Flammen verursacht? Oder hatte das Buch etwas in ihm gespürt und das Feuer war die Reaktion darauf? Wie auch immer, irgendwie war es ihm gelungen, die Macht der Chronik des Lebens hervorzulocken – ohne Blut und ohne Griffel –, und zwar viel intensiver als je zuvor.
    Aber was nutzte ihm das? Ohne den Griffel konnte er Kates Namen nicht schreiben.
    Dann schob sich eine andere Erinnerung in seine Gedanken. Es war im Elfenbaumhaus gewesen, wo Dr. Pym gesagt hatte, dass der Griffel ein Hilfsmittel war, mehr nicht. Michael hatte nicht verstanden, was Dr. Pym damit meinte. Aber was wäre, wenn …
    Michael empfand eine Welle der Erregung, als ihm plötzlich eine Idee kam. Was wäre, wenn der Griffel so etwas Ähnliches war wie die Fotos, die sie anfangs verwendet hatten, um die Macht des Buchs Emerald zu aktivieren? Irgendwann war Kate in der Lage gewesen, die Chronik der Zeit völlig alleine und ohne Hilfe zu befehligen. War es möglich, dass hier das Gleiche geschah? War der Griffel vielleicht nur ein Mittel, um die Macht des Buchs Rubyn zu beschwören, bis man herausgefunden hatte, wie die ganze Sache funktionierte? Immerhin hatte doch auch der grässliche Magnus, der eigenhändig den Griffel zerbrochen hatte, die Absicht, Kate wieder zum Leben zu erwecken. Also war der Griffel nicht der einzige Weg, mit der Chronik des Lebens zu kommunizieren!
    Der Turm bebte und zitterte jetzt stärker. Graue Nebelfinger griffen zwischen den Säulen hindurch und schoben sich über den Boden.
    Michael legte seine Hand auf die Seiten des Buches und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Schwester. Er sah alles mit einer unheimlichen Klarheit. Es war der Chronik immer nur um seine Gefühle und sein Herz gegangen, als er die Gefühle jener anderen in sich aufgesogen hatte – Emmas Gefühle, die des Wächters und der Elfenprinzessin. Michael hatte es wohl schon die ganze Zeit geahnt. Vielleicht hatte er sich deswegen so sehr dagegen gesträubt, zum Hüter der Chronik des Lebens zu werden. Aber die Chronik gehörte zu ihm, das verstand er jetzt. Und er akzeptierte es.
    Vergiss nie, wer du bist.
    Ich bin Michael Wibberly, dachte er. Der Bruder von Kate und Emma. Und er griff tief in sich hinein, bis zum Fundament seines Daseins – der Liebe zu seinen Schwestern – und holte sie ans Tageslicht.
    Seine Augen blieben geschlossen, aber er hörte das Prasseln des Feuers.
    Plötzlich befand sich Michael in einem hohen Raum mit schmalen Fenstern, in dem etwa zwanzig Betten in ordentlichen Reihen standen. An den Wänden hing Weihnachtsdekoration. Michael erkannte den Schlafsaal des Waisenhauses in Boston, wohin er und seine Schwestern gebracht wurden, nachdem seine Eltern verschwunden
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