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Das Buch Rubyn

Das Buch Rubyn

Titel: Das Buch Rubyn
Autoren: John Stephens
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der Kirche. Er kam zum Fuß des Glockenturms. Mitten auf dem Boden lag eine große, zersprungene Glocke. Eine wackelig aussehende Treppe führte nach oben. Michael stand da und lauschte dem Klang der Geige, die durch den Turm nach unten drang. Dann stieg er hinauf.
    Die Elfenprinzessin hatte gesagt, dass der Nimbus für jeden etwas anderes bereithielt. Aber wo kam diese riesige alte Kirche her? Was hatte sie zu bedeuten? Sollte er der Musik folgen? Würde sie ihn zu Kate führen? Und wer spielte auf der Geige?
    Die Treppe endete und eine Holzleiter führte nach oben zu einer Falltür in der Decke. Michael schob sich das Buch Rubyn unter den Arm und kletterte hoch auf eine weite, hölzerne Plattform. Steinsäulen entlang der Brüstung trugen ein spitzes Dach. Drei eiserne Glocken hingen in dem Gebälk. In der Mitte des Bodens gähnte ein Loch, das vermutlich die fehlende Glocke geschlagen hatte, als sie herunterfiel. Michael sah sich um. Die Kirche stand von undurchdringlichem Nebel umgeben.
    Bin ich immer noch in der Höhle?, fragte sich Michael. Und wenn nicht – wo bin ich nur hingeraten?
    Er war verwirrt und ängstlich und fühlte sich sehr allein.
    Kate konnte er nirgends entdecken. Aber er hatte den Ursprung der Musik gefunden.
    Ein Junge, ein paar Jahre älter als Michael, mit zerzaustem dunklem Haar und abgetragener, altmodischer Kleidung stand am Rand des Glockenturms und spielte auf einer zerkratzten Geige. Seine Finger waren schmutzig, aber er spielte mit einer leichthändigen, flüssigen Präzision, und seine Augen waren geschlossen, als wäre er ganz in die Musik versunken.
    Michael stand nur da. Er wusste nicht, was er tun sollte.
    Das Lied war zu Ende. Der Junge senkte die Geige.
    »Das hat mir meine Mutter beigebracht. Ich habe es oft für sie gespielt. Ich heiße Rafe.«
    »Ich bin Michael.«
    »Ich weiß.«
    »Wo … sind wir hier? Was ist das für ein Ort?«
    »Die Kirche?« Der Junge streckte die Hand nach einer Säule aus. In der Geste lag große Traurigkeit und gleichzeitig große Liebe. »Dies ist ein Ort, der in der Welt der Lebenden nicht mehr existiert. Hier lernte ich deine Schwester kennen. Der Nimbus – um mit den Elfen zu sprechen – ist leicht zu beeinflussen, wenn man den Willen und die Macht hat. Als ich dich kommen spürte, schien mir die Kirche ein angemessener Treffpunkt zu sein. Aber vielleicht bin ich auch nur sentimental.«
    Er schaute Michael an. Seine Augen waren von einem leuchtenden Grün, und da wusste Michael, wer er war. Es war nicht einfach ein Junge – dies war der Feind.
    »Wo ist sie?«
    »Hinter dir.«
    Michael drehte sich um. Der große Schreibtisch, auf dem seine Schwester lag, war vorher nicht da gewesen. Kate trug dasselbe elfenbeinfarbene Spitzenkleid. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht bleich, die Hände über der Brust gefaltet. Er ging zu ihr und berührte ihren Arm. Nein, sie war kein Trugbild, sondern Wirklichkeit.
    »Du hältst sie hier fest, nicht wahr?«
    »Ja, das tue ich.«
    »Warum?«
    »Ich glaube, du kennst die Antwort.«
    Michael sagte nichts. Er spürte, dass der Junge hinter ihn getreten war.
    »Meine Gefolgsleute in der Welt der Lebenden haben meinen leiblichen Körper jahrzehntelang aufbewahrt. Sie warten nur darauf, dass mein Geist in ihn zurückkehrt. Als Hüter der Chronik des Lebens hast du die Macht, mich zurückzubringen. Gib meinem Geist die Freiheit und ich lasse deine Schwester frei. Wenn nicht, bleibt sie hier bei mir.«
    Michael fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. Dies war der Grund, warum Dr. Pym nicht gewollt hatte, dass er hierher kam. Er hatte gewusst, dass Michael vor genau diese Wahl gestellt würde: Entweder er brachte seine Schwester und den grässlichen Magnus zurück, oder er verdammte seine Schwester dazu, auf ewig im Land der Toten zu bleiben.
    Noch bevor er den Gedanken zu Ende gebracht hatte, wusste er, dass er keine Wahl hatte. Es war ihm egal, ob der grässliche Magnus in die Welt der Lebenden zurückkehrte und seine alte Macht wiedererlangte. Es war ihm egal, dass er für alles verantwortlich sein würde, was danach geschah. Nur Kate war wichtig. Sie war das Wichtigste überhaupt. Michael würde den Geist des grässlichen Magnus hundertmal zurück in die Welt bringen, wenn seine Schwester nur wieder die Augen öffnen und mit ihm sprechen würde.
    Und womöglich hatte der Zauberer genau davor Angst gehabt.
    Es war Michael, als hörte er irgendwo in der Ferne eine zweite Geige, die eine andere Melodie
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