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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens
Autoren: Douwe Draaisma
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Ratschläge zu geben, befolge die, die Du zu befolgen hast, aber wenn Du auf mich hören willst, dann vergiss Deinen Gatten.«
Anmerkung
Notar Dufouleur, verurteilt wegen Aktenfälschung, schrieb seiner Frau: »Adieu, ich küsse dich hunderttausend Mal, erinner Dich manchmal an Deinen armen Freund, doch was sage ich, strenge Dich im Gegenteil an, ihn aus Deinem Gedächtnis zu tilgen, wenn Dir das möglich ist.«
Anmerkung
    Es scheint, als wüsste Dufouleur nicht so genau, worum er bitten soll. Wie könnte es auch anders sein? Der Trost, auf den er für sich selbst hoffte, lag in dem Wunsch, erinnert zu werden. Der Trost, den er zu bieten versuchte, verlangte gerade dies als Opfer. Um das Glück seiner Lieben willen war er bereit, sein Andenken preiszugeben und auch den zweiten Tod zu sterben.
Der letzte Brief
    Einer der Abschiedsbriefe trägt eine auffällige Unterschrift, die des öffentlichen Anklägers selbst, Antoine Quentin Fouquier-Tinville. Von einem Büro über dem Gefängnis aus hatte er sich in den Jahren des Terrors als eifriger Bürokrat durch stapelweise Papier gearbeitet: Berichte von Denunzianten, anonyme Anzeigen, Zeugenaussagen, Polizeiakten und – als Schlussstück einer kurzen und unerbittlichen Rechtskette – die Urteile. Er hatte täglich Haftbefehle ausgestellt, Verdächtige verhört, flehentliche Bitten angehört, Gnadengesuche abgelehnt. Nach Robespierres Sturz wurde er verhaftet und ins Gefängnis gesperrt.

    Fouquier-Tinville hinter einem wohlgefüllten Kistchen mit ›pièces à charge‹
    Er verbrachte ein Jahr in einer fensterlosen Zelle ohne Kerzen.
Anmerkung
Als er dem Richter vorgeführt wurde, erwies sich die Anklage als genauso vage wie die von ihm erhobenen, mit denen es ihm gelungen war, dass Tausende von Verdächtigen verurteilt wurden: Verdacht auf ›Unregelmäßigkeiten‹ und ›Willkür‹. Fouquier-Tinville, verheiratet, neunundvierzig Jahre alt, wurde zum Tode verurteilt. Es erging ihm wie allen anderen. Auch seine Besitztümer wurden für beschlagnahmt erklärt, auch er durfte noch einen Abschiedsbrief schreiben.
    Am Vorabend seiner Hinrichtung schreibt er seiner Frau, er sei unschuldig und werde reinen Gewissens und mit sauberen Händen sterben. Wie alle Verurteilten versucht er Trost im Andenken seiner Lieben zu finden: »Inmitten all dieser düsteren Geschehnisse bleibt mir doch noch ein Strahl der Hoffnung oder vielmehr des Trostes, nämlich die Gewissheit, dass Du von meiner Unschuld überzeugt bist. Immerhin lässt mich diese Überzeugung hoffen, Du wirst unseren Kindern versichern, ihr Vater sei unglücklich, aber unschuldig gestorben und habe Dein Vertrauen und Deine Achtung nie verloren. Befolge meinen Rat, lass Dich vom Kummer nicht überwältigen und schone Deine Gesundheit für Dich und unsere armen Kinder.«
Anmerkung
Er bittet sie, »unsere kleinen Streitigkeiten« zu vergessen, und schreibt zum Schluss: »Mit Tränen in den Augen und schweren Herzens sage ich Dir, Deiner Tante und meinen armen Kindern zum letzten Mal Adieu. Ich umarme Euch tausend Mal. Ach, wie froh wäre ich, Dich noch ein Mal zu sehen und in meine Arme schließen zu können. Aber, Liebste, es ist aus, denken wir nicht mehr daran!«
Anmerkung
    Zwei Jahre zuvor hatte ein Verurteilter in seinem Abschiedsbrief geschrieben: »Früher oder später rafft die Sense der Zeit alle Lebenden dahin und macht uns alle gleich.«
Anmerkung
Fouquier-Tinville muss den Brief selbst zu Gesicht bekommen haben. In seinem eigenen Abschiedsbrief erweist sich der Tod tatsächlich als großer Schlichter. Nach der Unterschrift folgt noch: »Das Einzige, was ich Dir als Beweis meiner Freundschaft hinterlassen kann, sind diese Haare, die ich Dich bitte, aufzubewahren.«
Anmerkung
Ebenso wenig wie die Flechte der Prinzessin von Monaco ist diese Locke je über das Archiv hinausgekommen, das er selbst so peinlich genau hatte führen lassen.
»Kinder vergessen sehr schnell«
    Was an diesen Briefen ist französisch? Was typisch achtzehntes Jahrhundert? Sehr viel, zweifelsohne. Die Angst, sterben zu müssen, während bei Personal und Lieferanten noch Rechnungen offen sind, wird mit den damaligen Auffassungen von Ehre bei Adel und Bourgeoisie zusammenhängen, denen viele Verfasser angehörten. Was genau und was nicht an Verhältnisse gebunden war, wie sie im Frankreich der Revolution und des Terrors herrschten, würde eine vergleichende Untersuchung mit Sammlungen von Abschiedsbriefen aus anderen Zeiten, anderen Kulturen
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