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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens
Autoren: Douwe Draaisma
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ist irreführend, denn die größte Überraschung für denjenigen, der die Zahlen zum ersten Mal sieht, ist diese: Höchstens einer von vier, fünf Menschen hinterlässt einen Abschiedsbrief. Selbst diese Zahl ist noch eine Überschätzung: Wird bei einem tödlichen Zwischenfall, wie Ertrinken oder einem Unfall ohne Gegenpartei, kein Abschiedsbrief gefunden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er nicht als Selbstmord registriert wird. Der am häufigsten geschriebene Abschiedsbrief ist kein Abschiedsbrief. Und von den wenigen Briefen und Zetteln, die dennoch geschrieben werden, ist ein Teil auch noch unadressiert oder an niemanden im Besonderen gerichtet, wie den zufälligen Finder oder die Polizei. Nur etwas mehr als die Hälfte aller Abschiedsbriefe richtet sich an einen Nahestehenden, wie Ehegatten, Eltern, Kinder, Bruder oder Schwester. Es wäre wünschenswert, wenn diese Tatsache bekannter wäre: Neben jedem Hinterbliebenen mit einem persönlich an ihn oder sie gerichteten Abschiedsbrief stehen viele Menschen mit leeren Händen.

    Für die deprimierende Abwesenheit eines letzten Berichts an die Nächsten gibt es allerlei Gründe. Menschen, die ihren Selbstmordversuch überlebt haben, erzählen von der Verengung im Denken und Handeln, von der Eile, dem Wunsch, es schnell hinter sich zu bringen und sich von keiner einzigen Überlegung oder Aktivität im letzten Moment davon abhalten zu lassen. Das ist eine Verengung, die in diesem Moment vermutlich notwendig ist, absichtlich aufrechterhalten wird und die Ablenkung durch das Schreiben eines Briefes nicht verträgt.
    Aber kann nicht zumindest ein Teil der Erklärung aus jenen anderen Abschiedsbriefen abgeleitet werden, von Menschen, die ihren Tod nicht selbst wählten? Man überlege: Selbst wenn jemand, der seinem Leben ein Ende setzt, genau wie die anderen hofft, in den guten Erinnerungen seiner Liebsten weiterzuleben – wie sollte er dann die Worte finden, sie zu bitten, ihn nicht den zweiten Tod sterben zu lassen, wenn er den ersten selbst gewählt hat? Wie soll man darum bitten, nicht vergessen zu werden, wenn man aus freien Stücken hätte bleiben können? Wie darüber schreiben, wie man am liebsten erinnert werden würde, wenn man gleichzeitig weiß, dass man seine Liebsten mit der Erinnerung an das belastet, was man gleich ausführen wird? Wie die Worte finden, jemanden zu trösten, wenn man selbst der Grund für den Kummer ist? All diese Regeln und Formulierungen, die den Verfassern jener anderen Abschiedsbriefe wie von selbst aus der Feder flossen, sind hier schier unmöglich. Vielleicht sollten wir in der Abwesenheit von Abschiedsbriefen nicht nur ein Maß für die Verzweiflung und Verwirrung sehen, sondern auch für das Bewusstsein, dass man den Liebsten nicht schreiben kann, was sich nicht ausdrücken lässt. Der ungeschrieben gebliebene Abschiedsbrief ist ein Zeichen dafür, dass sich etwas in aller Aufrichtigkeit nicht schreiben lässt.
Beschwörung
    Die Abschiedsbriefe, die aus Fouquier-Tinvilles Archiv zum Vorschein kamen, enthalten alles: vom tränenbenetzten letzten Herzensschrei bis zu einem fast notariellen, fünf Seiten langen Schriftstück mit Anweisungen bezüglich der letzten Wünsche. In den Briefen waren Haarlocken, Ringe und Medaillons eingefalzt, Taschentücher, Schnallen und Broschen. Nichts von all dem erreichte die Hinterbliebenen. Hätte es einen Unterschied gemacht? Wäre jemand vergessen worden, weil seine flehentliche Bitte, ihn nicht zu vergessen, seine Hinterbliebenen nicht erreicht hatte? Sollte das Fehlen eines greifbaren Andenkens es schwieriger gemacht haben, die Erinnerung an den verlorenen Lieben festzuhalten? Hätte man sich mit weniger Liebe an einen Verstorbenen erinnert, jetzt, da es keinen Brief gab, der einem sagte, wie der Verfasser am liebsten in Erinnerung bleiben wollte?
    Wen solche Fragen bewegen, der hat schon eine Antwort. Wer Abschied nehmen muss, hofft, in guten Erinnerungen weiterzuleben, und wer jemanden verliert, verspricht sich selbst feierlich, diese Erinnerungen zu hegen und zu pflegen. Aber was der eine hofft und der andere verspricht, kann nicht mehr sein als eine Beschwörung. Beide wissen, dass sich das Gedächtnis nicht kommandieren lässt, dass es seinen eigenen Weg geht, selbst mit Erinnerungen an diejenigen, die uns am nächsten standen. All diese Haarlocken und Medaillons – drücken sie nicht gerade die Machtlosigkeit gegenüber dem eigenen Gedächtnis aus? Wenn unsere kostbarsten
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