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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens
Autoren: Douwe Draaisma
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mit dem Haar war die beste Garantie gegen genau diesen Verlust.
    Am Morgen der Exekution, am 26. Juli 1794, beobachtete ein Zeuge, dass die Prinzessin ihr Haar und den Brief bei sich hatte, als sie zu dem Karren geführt wurde. Er hörte, wie sie einem Gefängnisaufseher zurief: »Schwöre mir vor diesen ehrbaren Leuten, die das gleiche Schicksal erwartet, dass du mir diesen letzten Dienst erweisen wirst, den ich von den Menschen noch erhoffe!«
Anmerkung
Es ist nicht bekannt, ob er ihr dies versprochen hat; der Zopf und der Brief verschwanden jedenfalls ohne Umschweife im Gefängnisarchiv.
    Die Geschichte hat die Prinzessin von Monaco mit grausamer Ironie behandelt. Schon während der Karren zum Platz der Exekution unterwegs war und nur mühsam durch die johlende Menge vorankam, schwirrte Paris vor Gerüchten, gegen Robespierre sei ein Aufstand im Gange. Manche versuchten, den Konvoi aufzuhalten, um die Exekutionen herauszuzögern. Aber Soldaten der republikanischen Garde schossen im Laufschritt den Weg frei und erteilten den Befehl, das Tempo zu erhöhen. Zwanzig Minuten später war Françoise-Thérèse hingerichtet. Am Tag nach ihrem Tod wurde Robespierre zu Fall gebracht. Noch einen Tag später starb auch er unter der Guillotine. Das bedeutete den Anfang vom Ende der Schreckensherrschaft. Viele Todesurteile wurden aufgeschoben oder aufgehoben. Hätte die Prinzessin den ›Betrug‹ mit ihrer Schwangerschaft ein paar Tage länger durchgehalten als diese vierundzwanzig Stunden, die ihr Gewissen schon so sehr belasteten, wäre sie wahrscheinlich zu ihren Töchtern zurückgekehrt. Auch in ruhigeren Zeiten ist ihr Brief nicht in den Besitz ihrer Töchter gelangt. Ihr Haar wurde nur einmal für eine Gedenkfeier eingesetzt, und zwar 1934 in einem Pariser Museum. Und es war nicht Françoise-Thérèse, deren man gedachte, sondern der Französischen Revolution.

Ohne Schuld oder Schulden
    Miniaturporträts, eine Haarlocke, ein Zopf oder der Brief selbst waren materielle Mittel zur Unterstützung der Erinnerung, der Rest musste sich aus dem Inhalt des Briefes ergeben. Hier sollte man vielleicht eine große Variation an Themen und Wendungen erwarten. Aber es sind die Übereinstimmungen, die einen berühren.
    Fast alle Briefe enthalten genaue Anweisungen zur Abwicklung finanzieller Angelegenheiten. Ab und zu geht es um ausstehende Darlehen. Freunde oder Familienmitglieder werden zu Personen geschickt, die ihnen noch etwas schuldig sind. Ein gewisser Bottage berichtet, Descharmes schulde ihm sechshundert Pfund, und fügt den praktischen Rat hinzu: »Verlangen Sie das Geld von ihm, bevor er von meinem Tod erfährt.«
Anmerkung
Viel zahlreicher sind die Aufträge, Schulden abzulösen. Eine Kammerzofe hat noch ein Anrecht auf zwei Jahre Lohn, ein Gärtner bekommt noch siebzig Pfund, bei einem Perückenmacher steht noch eine Rechnung von acht Pfund offen. So gering die Schuld auch ist, eine nicht abgerechnete Mahlzeit, ein Küchenmädchen, das noch bezahlt werden muss – den Hinterbliebenen wird ans Herz gelegt, alles zu begleichen, manchmal buchstäblich bis auf den letzten Sou. Poiré, verurteilt wegen royalistischer Sympathien, beendet den Abschiedsbrief an seine Frau mit der Rechnung für die Lebensmittel, die man ihm ins Gefängnis geliefert hat: »Sechs Pfund Fleisch zu vierzehn Sols erhalten, was den Betrag von vier Livres vier Sols ausmacht«, und schließt dann ab mit »Adieu, adieu«.
Anmerkung
Manchmal war der Brief schon mit den allerletzten Umarmungen und innigsten Küssen beendet, und dann folgte doch noch ein PS mit dem Auftrag, diesem oder jenem Knecht, Angestellten oder Gärtner zu bezahlen, was ihm zustand.
    Neben ausstehenden Rechnungen gab es zudem oft Gegenstände, die zu ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurücksollten. Barbot, ein Lehrer, der so unvorsichtig war, in seinen Briefen von seiner Sehnsucht nach der Zeit vor der Revolution zu schreiben, hatte zu Hause noch alles Mögliche stehen, was ihm von den Eltern eines Schülers geliehen worden war. In der vielleicht etwas naiven Erwartung, Fouquier-Tinville würde dies alles tadellos in Ordnung bringen, listete er ihm die Gegenstände von A bis Z auf: »Es handelt sich um einen Kaminrost, Schaufel und Zange, eine Pendeluhr, die auf dem Kamin steht, drei rote Sessel und einen Kupferstich über der Kommode, der den Engel Amadeus mit seiner Trompete darstellt. Außerdem gehört noch ein Stuhl dem Bürger Lemercier sowie die Sammlung der Zeitungen ›Le
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