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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens
Autoren: Douwe Draaisma
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überleben sollte – bezeugte später, wie viel Trost es spendete, ein Porträt hinterlassen zu können: »In dieser traurigen Überzeugung war es uns noch ein Trost, eine Strähne unseres Haares abzuschneiden, um sie um ein Konterfei zu wickeln und sie an unsere Frauen, unsere Mütter, unsere Kinder oder alle jene geliebten Personen zu schicken, die wir nicht wiedersehen sollten.«
Anmerkung
Umgekehrt wünschten sich Verurteilte häufig ein Miniaturbild ihrer Liebsten. Advokat Desmoulins flehte seine Frau Lucile an, so schnell wie möglich ihr Bildnis zu schicken, notfalls müsste sie dem Maler eben zweimal am Tag Modell sitzen. Er freute sich innig auf den Tag, an dem er ihr Porträt erhalten würde. Aber unterdessen solle sie schon eine Strähne ihres Haares schicken, schrieb er, die er an sein Herz drücken könne!
Anmerkung
Er wurde am 5. April 1794 exekutiert. Etwas später in derselben Woche lief seine Frau, verrückt vor Kummer, auf die Straße und rief so lange »Vive le roi!«, bis sie verhaftet wurde. Am 13. April folgte sie ihrem Mann.
    Inhaftierte behielten die Porträts so lange wie möglich bei sich. Im Archiv liegt ein Brief der Witwe L’Herbette. Es war ihr zu Ohren gekommen, dass man auf dem Leichnam ihres Mannes ein Miniaturbild von ihr gefunden hatte. »Da ich annehme, dass mein Gesicht nur für die, die mich kennen, von Interesse ist«, schrieb sie Fouquier-Tinville, »hoffe ich auf Ihre Einwilligung, es mir zurückzuerstatten.«
Anmerkung
Sie bot an, der Republik den Wert der Goldfassung zu vergüten. Es muss ihr ein unerträglicher Gedanke gewesen sein, dass das, was ihr Mann bis zuletzt von ihr bei sich trug, in den Händen derjenigen blieb, die für seinen Tod verantwortlich waren.
    Manche Verurteilte versuchten, etwas zu hinterlassen, was seinen Weg nicht nur in ein persönliches Gedächtnis finden sollte, sondern in das der Geschichte. Millin de Labrosse, Kapitän a.   D., mit aufbrausendem Charakter, der für ihn nicht gut war, hatte sich von einem Provokateur in einen Wortwechsel verwickeln lassen und in seiner Wut etwas Falsches gesagt. Sein Fall ist vielleicht nicht der tragischste aus dieser Zeit, eher, sollte man beinahe sagen, der lächerlichste. Er schrieb Fouquier-Tinville, er habe einen ›Aerostat‹, einen Luftballon, erfunden, und in seiner Zelle habe er davon einMuster aus Karton. Elf Jahre zuvor hatte der erste bemannte Flug mit einem Ballon der Brüder Montgolfier stattgefunden; möglicherweise glaubte Millin de Labrosse, ihm sei eine wesentliche Verbesserung eingefallen. Er bot an, dem Revolutionstribunal die Konstruktionstheorie zu erklären. Zwei Stunden seien ausreichend, sodass er doch noch innerhalb des vorgesehenen Zeitraums von vierundzwanzig Stunden hingerichtet werden könne. An Aufschub, schrieb er, sei ihm nicht gelegen. Sein Schlusssatz verweist auf das beabsichtigte Gedenken: »Ich bin zum Sterben bereit und versuche keineswegs, mein Leben unnötig zu verlängern, doch liegt es mir am Herzen, etwas von mir zu hinterlassen, woran man sich erinnern kann, wenn die Tage des Zorns vorüber sein werden.«
Anmerkung
Er wollte kein längeres Leben, aber ein Leben im Gedächtnis der Geschichte. Es gibt keinerlei Hinweis, ob sich irgendwer die Mühe gemacht hat, kurz zu seiner Zelle zu kommen, um sich das Modell aus Karton anzuschauen. Auch dieser Brief verschwand im Archiv. Der Name Millin de Labrosse fehlt in der Geschichtsschreibung des Ballons; dank seines Briefes wird man sich an ihn als den Mann erinnern, der wollte, dass man sich seiner erinnert.
    Den meisten Gefangenen hatte man jeglichen Besitz genommen. Sie werden sich keine Illusionen über die Rückgabe von Wertgegenständen gemacht haben: Der Departementsbeamte Sourdille-Lavalette verschluckte vor der Exekution seinen Ehering. Aber im Brief konnte man durchaus Gegenstände, die sich außerhalb des Gefängnisses befanden, zum Andenken bestimmen und diese auserwählten Personen zuweisen. Marquis De Gouy d’Arsy, einundvierzig, verurteilt wegen Verschwörung, schrieb seiner Frau: »Ich schicke meinem Ältesten den Schlüssel meines kleinen ›Necessaires‹; ich habe ihn in Papier gewickelt, das einige wichtige Worte für ihn und seine Brüder enthält. Gib auch allen anderen irgendeinen Gegenstand, der mir gehört hat und der ihnen zeigen soll, dass ich sie alle gleichermaßen lieb habe. Lass sie diesen kurzen Brief abschreiben; und Du, Liebste, behalte das Original, denn auch darin ist von Dir die
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