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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens
Autoren: Douwe Draaisma
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Moniteur‹, von denen ein Teil gebunden, ein anderer ungebunden ist. Letztere befinden sich in einem Schrank neben dem Kamin. Ich halte es für angebracht, diese Sachen dem Bürger Lemercier, dem sie rechtmäßig gehören, zurückzuerstatten.«
Anmerkung
    Die Sorgfalt, mit der solche Anweisungen sogar in gehetzter Krakelschrift auf dem Weg zum Schafott notiert wurden – in diesem und jenem Kabinettschränkchen liege ein Dutzend Taschentücher mit den Initialen von Sophie, die zu ihr zurückmüssten –, unterstreicht, dass niemand mit dem Gedanken noch ausstehender Schulden sterben wollte.
    Für Schulden im übertragenen Sinne galt das Gleiche. Wie ein Leitmotiv zieht es sich durch fast alle Briefe: Schuld und Unschuld, Vergeben und Schlichten. Zuallererst die Unschuld des Briefschreibers. Jeder Brief beschwört die Liebsten, kein Wort von den Beschuldigungen zu glauben, die zur Verurteilung geführt haben. Das kann im selben Brief drei- oder viermal wiederholt werden. Georges Vincent, ein ›Unterhändler und Übersetzer‹, den man wegen des Verdachts von Kontakten zu bretonischen Verschwörern verurteilt hatte, bittet seine Frau, seine Kinder in seinem Namen innig zu umarmen und ihnen zu sagen, ihr Vater sei unschuldig gestorben. Ein paar Zeilen weiter schreibt er, dass sie »sogar stolz sein können auf den Tod ihres Vaters, der als unschuldiges Opfer der Revolution seinen Kopf unter das Fallbeil legte«. Wieder ein paar Zeilen weiter erklärt er, die Menschen ließen sich durch Verirrung und Leidenschaft blenden, und deswegen werde häufig der Unschuldige bestraft statt des Schuldigen. Er schließt mit zärtlichen Küssen und Lebewohl: »Der Himmel möge Euch ein besseres Los bescheiden als Eurem unglücklichen Vater, der unschuldig und reinen Gewissens stirbt.«
Anmerkung
Formulierungen wie diese sind in allen Briefen zu finden. Die Verfasser wollen in der Erinnerung als Menschen weiterleben,die nach Ehre und Gewissen handelten, mit unbeschwertem Gemüt sterben werden und das Recht haben, sich selbst im Gedenken als Väter oder Mütter, Söhne oder Töchter zu empfehlen, die unschuldig gestorben sind.
    In den Briefen findet sich auch eine andere Schuldenbuchhaltung. Hin und wieder ist noch eine Rechnung zu begleichen, und der Brief steht im Dienst der Vergeltung. Catherine Laviolette bestellte einen Miniaturmaler und bat ihn, sie so abzubilden, dass ihre Hand auf einem Totenschädel ruhte. Das Memento war für ihren Mann bestimmt, der mit einer Geliebten durchgebrannt war. Sie machte ihn für ihre Verhaftung verantwortlich. Manchmal gibt es einen Brief, in dem mit Vor- und Nachnamen die Menschen angegeben sind, die durch ihren Verrat den Tod des Briefschreibers auf dem Gewissen haben. Aber solche Briefe kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Die meisten stehen im Zeichen der Erlassung von Schulden, von Vergebung und der Bitte um Vergebung. Gueau de Reverseaux sandte einen seiner letzten Briefe an einen Mann aus Rouen, der ihn verraten hatte: »Ich schreibe Dir, Bürger, in meiner Todesstunde, um Dir zu versichern, dass ich keinen Groll gegen Dich ins Grab mitnehme, auch gegen alle anderen nicht, die mich – ich glaube, ohne es zu wollen – in diese Situation gebracht haben … Von ganzem Herzen verzeihe ich denen, die vielleicht meine Feinde waren.«
Anmerkung
Berger, verurteilt wegen monarchistischer Sympathien, schrieb an eine seiner Töchter: »Ich empfehle mich Deinen Gebeten sowie denen aller unserer Freunde, die ich erst in der Ewigkeit wiedersehen werde. In wenigen Stunden werde ich dort sein, Gott möge sich meiner erbarmen und mir meine zahllosen Sünden vergeben, wie ich von ganzem Herzen meinen Richtern vergebe, die sich offensichtlich getäuscht haben, indem sie mich eines Verbrechens wegen verurteilten, das mir nie in den Sinn gekommen wäre. Auch meinen Feinden, die an meiner Verhaftung und an meinem Tod schuld sind, verzeihe ich.«
Anmerkung
Diese Wendung, Vergeben unter Verweis auf die Aussicht göttlicher Vergebung, kommt in den Briefen erstaunlich selten vor. Auch ohne Verweis auf ein höheres Urteil sollte eine Person im Gedenken stehen, die mit reinem Gewissen gestorben und mit den Lieben ins Reine gekommen war, keineSchulden hinterlassen hatte, das jeweils Ihre getan hatte und sich in den letzten Momenten des Lebens versöhnlich gezeigt hatte.
Opfer
    Jeder einzelne Brief war so vieles zugleich. Häufig mussten die Verfasser davon ausgehen, dass es der Brief selbst war, der die
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