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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens
Autoren: Douwe Draaisma
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Nachricht ihrer Hinrichtung brachte. Der Abschiedsbrief war also zunächst eine Todesanzeige. Wie sollte man die Worte finden, den Lieben vom eigenen Tod zu berichten? Manche adressierten den Brief an einen Freund oder ein Familienmitglied, die es der Familie schonend beibringen sollten. Andere versuchten, den Bericht mit ein paar Sätzen über eine ungünstige Wendung einzuleiten, die ihre Rechtssache genommen habe. Ausdrucksstärker waren die Tränenspuren, die zittrige Handschrift, auch wenn der Verurteilte schrieb, er sähe seinem Schicksal ruhig und würdevoll entgegen.
    Der Brief war nicht nur Todesanzeige, sondern auch Testament, ein letzter Wille. Datiert und signiert verlieh der Brief dem Ausdruck, was der Verfasser noch gern erledigt sähe. Die Anweisungen mit all diesen Listen und Beträgen bilden einen seltsamen Kontrast zu den Zeilen, in denen Abschied genommen wird: »Ich muss enden, meine Tränen tränken diesen Brief. Stille Du die deinen. Schicke mir etwa fünfzehn Francs.«
Anmerkung
    Aber der Brief war auch noch etwas anderes. Der Tod war angekündigt worden. Die letzten Dinge waren geregelt. Und jetzt? Jetzt sollte derselbe Brief, der so viel Kummer verursachte, Trost spenden. Gegen Ende wandelte sich der Brief zu einer Beileidsbezeugung. Wieder wurde nun über Erinnern und Vergessen geschrieben, diesmal nicht, um Trost zu suchen, sondern um diesen zu spenden.
    Antoine de Lavoisier hatte schon als Mittzwanziger einen großen Ruf als Astronom, Chemiker und Mathematiker. Mit Ende zwanzig heiratete er Marie-Anne Pierrette Paulze, fast vierzehn Jahre alt. Sie wurde seine treuste Mitarbeiterin. Sie lernte Englisch, um das Werk Priestleys für ihn zu übersetzen, und nahm Zeichenunterricht, umseine Bücher zu illustrieren. Lavoisier etablierte seinen Namen mit dem Wiegen von Gasen, die bis dahin als unwiegbar galten. Er zerlegte Wasser in die Elemente Wasserstoff und Sauerstoff und bestimmte Elemente nach ihrem Gewicht. Privat vermögend, aber politisch progressiv, hatte er dem neuen Regime mit Plänen für eine Steuerreform und der Einführung des metrischen Systems gedient. Aber als ehemaliger Generalpächter war er unter Verdacht geraten, und trotz seiner großen Verdienste um die Landesverwaltung kam er in Schwierigkeiten, als er, Eigentümer ausgedehnter Ländereien, unter ein plötzlich eingeführtes ›Gesetz gegen Pachtgelder‹ fiel. Sein Ruf konnte ihn nicht retten. Der Brief, den er am Vorabend seiner Hinrichtung seiner Frau schrieb, liest sich wie ein Beileidsschreiben. Um sie zu trösten, musste er erneut das Unwiegbare wiegen: die Unwägbarkeiten des Für und Wider, gerade in diesem Alter, fünfzig, zu sterben. Dies schreibt er ihr:
    Ich habe eine verhältnismäßig lange Karriere hinter mir, vor allem auch eine sehr glückliche, und ich hoffe auch, dass sie mir einigen Ruhm eingebracht hat. Was hätte ich mir mehr wünschen können? Es ist anzunehmen, dass die Ereignisse, in die ich verstrickt bin, mir die Unannehmlichkeiten des Alterns ersparen. So werde ich mein Leben als kerngesunder Mann beenden, was ich ebenfalls zu den Vorteilen rechnen muss, die mir beschieden waren …
Anmerkung
    Andere versuchten in ihren Briefen, ihre Lieben an die Zeit nach dem ersten schlimmen Kummer denken zu lassen. Gueau de Reverseaux empfahl seiner Familie, Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, dass Erinnerungen, die jetzt noch Kummer hervorriefen, auf lange Sicht eine heilsame Wirkung haben würden. »Die erste Zeit ist peinvoll und schmerzlich, dann aber stimmt das Andenken an jene, die uns lieb waren, die Seele so sanft, dass uns wohler wird. Ich wünsche meiner Frau und meinen Kindern, recht bald dieses Gefühl zu empfinden.«
Anmerkung
    Die Erkenntnis des Kummers, noch ein letzter guter Rat, die Ermunterung, das Leben wieder aufzunehmen, die Versicherung, dieZeit werde ihre heilende Wirkung tun – das sind immer wiederkehrende Passagen in diesen Briefen, wie sie es in Beileidsbezeugungen bis heute sind. Aber dieses Beileid stammte von demjenigen, um dessen Tod getrauert würde. Das gab dem Verfasser die Möglichkeit, noch einen Schritt weiter zu gehen, einen Schritt, den nur er machen konnte, der in jeder anderen Beileidsbezeugung unangemessen wäre. In ihrem Versuch, zu trösten, legten manche ihren Liebsten ans Herz, ihrer nicht zu gedenken, sondern sie zu vergessen. Häufig sind es die allerletzten Zeilen. Dufresne, ein Wundarzt aus der Normandie, schrieb seiner Frau: »Ich habe Dir keine
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