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Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung

Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung

Titel: Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung
Autoren: Mike Wächter
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musterte den Mann. Etwa drei oder vier Fuß vor ihr blieb er stehen. Anne nahm die Lampe empor und leuchtet dem Fremden ins Gesicht. Dieser lächelte sie an, sagte aber nichts. Anne ließ den Schein der Lampe über seinen gesamten Körper gleiten, seine Umrisse auskundschaften, dann zurück in sein Gesicht wandern.
    Sie schauderte. Dieser Körper, dieses Gesicht. Sie kamen ihr bekannt vor. Sicherlich, sie musste sich einige Pfunde um die Bauchgegend wegdenken. Auch die BackenWangen waren etwas schmaler gewesen, und auf dem Vorderkopf waren einst mehr Haare.
    Für einen kurzen Moment verlor Anne die Fassung, stieß einen unkontrollierten Aufschrei aus. Doch schnell fing sie sich wieder. Konnte es überhaupt wahr sein? War der Mann, der vor ihr stand, tatsächlich ihr Ehemann, der nach 25 Jahren plötzlich vor ihrer Tür aufkreuzte? Wie alt mochte er mittlerweile sein? Etwa Mitte Vierzig. Vielleicht auch 46 Jahre. Sie musterte ihn noch einmal. Das Alter konnte stimmen.
    Der Reiter breitete seine Arme aus, so als wollte er sie in seine Arme schließen.
    »Hallo Anne«, sagte er. »Erkennst du mich? Ich bin es. William. William Shakespeare.«
    Er machte einen Schritt auf sie zu, sie trat unwillkürlich zurück. In der Hand hielt sie noch immer den Schürhaken fest umklammert.
     
     
    2.
     
    Anne erwachte aus unruhigen Träumen. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages drangen durch das Fenster ihres Schlafzimmers und trafen sie im Gesicht. Sie drehte sich zur Seite, um dem Licht auszuweichen. Im Halbschlaf jagten die Bilder, die sie eben noch geträumt hatte, weiter durch ihren Kopf.
    Zwei Männer im Nebel. Mit ihren Pferden waren sie zu einer undefinierbaren Masse verschmolzen. Sie verfolgten sie auf einer nächtlichen Straße. Sie wollte schneller gehen, rennen, den Männern entkommen. Aber es gelang ihr nicht.
    Plötzlich bewegte sich der Dunst. Streckte seine Schwaden aus, wie Hände, die nach ihr griffen. Nebelarme legten sich um sie. Fingen sie ein. Verschlangen sie. Dann erwachte sie.
    Annes Körper fühlte sich kraftlos an, die Knochen schmerzten. Die Bruchstücke in ihren Gedanken setzen sich nun zusammen. Die beiden Männer, das war kein Traum. Sie waren wirklich im Haus.
    William war zurückgekehrt. Begleitet von einem jungen Mann. Seinem Sekretär. Die Details der vergangenen Nacht manifestierten sich nun klarer vor ihrem inneren Auge. Der Sekretär hatte sie nicht einmal begrüßen wollen. Hatte sie nur gemustert, die Arme verschränkt. Erst als William ihm einen bösen Blick zuwarf, hatte er sich dazu herabgelassen, ihr seinen Respekt zu zollen.
    Und William – warum kam er jetzt zurück? Nach so vielen Jahren, in denen sich jeder der beiden sein eigenes Leben aufgebaut hatte. Hoffentlich erwartete er nicht, dass sie ihm verzeihen würde, was er ihr angetan hatte.
    Zum Glück hatte William nicht gefordert, dass er bei ihr im Ehebett schlief. Das wäre sein gutes Recht gewesen. Von sich aus hatte er den Vorschlag unterbreitet, im Gästezimmer untergebracht zu werden.
    Als Anne endlich in ihrem Bett lag, hatte sie lange kein Auge schließen können. Jetzt war sie todmüde.
    Mühsam richtete sie sich auf. Durch halb offene Augen blickte sie zum Fenster. Wie spät war es? Normalerweise bereitete ihr das Aufstehen keine Probleme. Ob sie sich wieder hinlegen sollte? Sie war wenig darauf erpicht, die Besucher ein weiteres Mal zu sehen. Sie schloss die Augen. Judith fiel ihr ein. Oh nein! Wahrscheinlich hatte sie die Reisenden bereits getroffen.
    Anne sprang aus dem Bett und schälte sich hastig aus ihrem Nachthemd. Sie absolvierte eine kurze Morgentoilette und kleidete sich an.
    Als sie auf den Flur trat, stand die Tür zum Gästezimmer offen. Die Tür zu Judiths Zimmer war hingegen geschlossen. Vielleicht war sie noch nicht aufgestanden? Nein, das war unwahrscheinlich. Anne nahm den Geruch von frischem Gemüse wahr, der aus dem Erdgeschoss heraufzog. Sie stieg die Treppe hinab und folgte dem Duft bis in die Küche. Das Bild, das sich ihr bot, irritierte sie.
    William stand am Herd und rührte mit einem Holzlöffel in einem großen Topf. Auf dem Esstisch standen vier Schüsseln. Als William sie bemerkte, wendete er sich zu ihr und setzte ein unverschämt ausgeruhtes Lächeln auf.
    »Das Frühstück ist gleich fertig«, sagte er.
    Anne nickte stumm.
    Sie drehte auf der Türschwelle um und verließ den Raum. Das war zu viel am Morgen. Seit wann konnte ihr Mann kochen? Eigentlich müsste es sie freuen, dachte sie.
    Im
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