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Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung

Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung

Titel: Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung
Autoren: Mike Wächter
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Flur traf sie Williams Sekretär, der einen Stapel Holzscheite in seinen Armen hielt. Er stellte sich ungeschickt an, die Scheite wollten ihm in alle Richtungen entgleiten. Anne musterte ihn. Auch er wirkte munter, das Quartier in der ungenutzten Dienstbotenkammer schien ihn nicht gestört zu haben. Er war jünger als William, vielleicht Mitte Dreißig. Älter als Judith. Anne bemerkte, dass er fein angezogen war. Er trug ein Wams aus schwarzem Samt mit roten Besätzen. Die Haare standen in dicken roten Locken von seinem Kopf ab und hingen bis hinab über seine Schultern, sahen aber nicht ungepflegt aus. Selten sah sie Männer mit derart langem Schopf. Für einen Sekretär erschien ihr die Frisur ungewöhnlich. Vielleicht mussten sich in der Welt der Künstler sogar die Schreibgehilfen außergewöhnlich geben.
    Der Mann schritt tonlos an Anne vorbei und verschwand in der Küche. Dann trat Judith durch die Tür ein, die zum Garten führte.
    »Hast du das gesehen, Mutter? Zu dumm um einen Stapel Holz zu tragen. Wenn alle Männer sich derart beschränkt anstellen, dann wird das nichts mit deinen Hochzeitsplänen für mich.«
    Der harsche Ton ihrer Tochter irritierte sie.
    »Ihr habt euch bereits kennengelernt?«
    »Ich war so freundlich, Henry zu zeigen, wo er das Holz im Garten findet. Sonst wäre er wahrscheinlich erfroren, während er die letzten verglühenden Holzscheite im Ofen angestarrt hätte.«
    Henry. Damit hatte der Mann jetzt zumindest einen Vornamen. Anne kam ein Gedanke. Dieser Kerl, zusammen unter einem Dach mit ihrer unverheirateten Tochter. Was war davon zu halten? Wenn Henry einer der Künstlerfreunde ihres Mannes war, dann schwante ihr Böses. Es gab Burschen, die Judiths schroffe Art anspornte.
    »Willst du mir nicht den Besuch vorstellen, Mutter?«
    Anne atmete tief durch. William hatte sich nicht getraut, es ihr direkt ins Gesicht zu sagen. Nun gut. Sie legte einen Arm um ihre Tochter und führte Judith in die Küche. William hatte in der Zwischenzeit die Suppe – eine herrlich duftende Kürbissuppe – in die Schalen gefüllt.
    »Darf ich bekanntmachen. Der bekannteste Theaterdichter Londons. William Shakespeare. Dein Vater.«
    Zum ersten Mal hatte Anne es geschafft, ihre Tochter zum Verstummen zu bringen. Verwirrt blickte Judith den Mann an und rührte sich nicht.
    William breitete seine Arme aus, wie er es schon am Vorabend getan hatte, als er Anne gegenübergestanden hatte. Er sah Judith direkt in die Augen, sein Blick leuchtete. Einen langen Moment sagte niemand der Anwesenden etwas. Henry setzte sich unbeteiligt an den Tisch. Dann schien Judith sich gefangen zu haben.
    »Komm in meine Arme, Tochter«, sagte William.
    »Da hol ich mir doch lieber die Beulenpest, als dass ich mich von fremden Männern begrabschen lasse!«
    Schweigend setzte sie sich zu Henry an den Tisch. William lachte.
    »Ich habe schon von deinem außergewöhnlichen Temperament gehört, Judith. In den Briefen deiner Mutter war immer wieder davon die Rede. In der Realität bist du noch viel interessanter. Wusstest du, dass ich ein Werk zu deinen Ehren geschrieben habe?«
    »Du meinst bestimmt die Widerspenstige Zähmung «, sagte Henry und lächelte, zum ersten Mal an diesem Tag.
    Das musste eins von Williams Stücken sein, dachte Anne. Wie wenig sie von seiner Arbeit in London wusste. Henry löffelte nun wieder seine Suppe. Als sich Annes Blick mit seinem traf, verzog er seinem Mund zu einem schiefen Grinsen, dessen Bedeutung sich ihr nicht erschloss.
     
    Anne hielt es nicht in der Küche aus. Sie brauchte frische Luft und eine Tätigkeit, um ihre Gedanken zu sortieren. Also ging sie in den Garten. Die Sonne stand bereits gut sichtbar über den Dächern Stratfords. Ihre Strahlen brachen mit Macht zwischen vereinzelten Wolken hindurch. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Der Erste in diesem Jahr. Bedächtig schritt sie ihre Pflanzungen ab, ließ ihren Blick über die Obst- und Gemüsebeete schweifen, die ersten Blüten des Weißkohls sprossen bereits. In der Nähe des kleinen Schuppens brachen die ersten Sprösslinge des neuen Rosenstrauchs hervor, den sie im November gepflanzt hatte. Anne spürte, wie sich ihre Aufregung legte.
    Sie öffnete die Schuppentür und holte sich fünf Holzlatten hervor. Der Zaun war nicht ausgebessert worden, seit sie vor 13 Jahren in dieses Haus gezogen war. Die Pfähle waren noch in gutem Zustand. Aber die Verstrebungen aus einfachem Rutenflechtwerk wurden im Winter morsch. Anne hatte
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