Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
sonst zu reden. Jahrelang hatte ich gepredigt, wie heilsam es sei, seine Gefühle auszudrücken, doch mein bewährtes Heilmittel seit Kindertagen war stets die Isolation gewesen. Das Muster hatte sich in all den entsetzlichen Nächten herausgebildet, die ich zusammengekauert unten im Keller verbracht hatte, wo ich mir die Ohren zuge halten und »Yankee Doodle« gesummt hatte, um die elterlichen Zornesausbrüche nicht mit anhören zu müssen, die sich über mir entluden.
    Wenn das Leben mich zu hart anpackte, zog ich mich in die graue Schale meiner selbstgewählten Isolation zurück wie eine Schnecke in ihr Haus.
    Jetzt hatte ich dreiundvierzig Fotos von Toten auf meinem Esstisch liegen. Der Tod war Milos Rohmaterial.
    Ich wählte die Nummer der Mordkommission von West L. A.
    »Sturgis.«
    »Delaware.«
    »Alex. Was gibt's?«
    »Ich habe hier etwas in die Hände bekommen, das solltest du dir mal ansehen. Eine Album voll mit Tatortfotos, wie's aussieht.«
    »Fotos oder Kopien?«
    »Fotos.«
    »Wie viele?«
    »Dreiundvierzig.«
    »Du hast sie tatsächlich gezählt«, sagte er. »Dreiundvierzig von ein und demselben Fall?«
    »Dreiundvierzig verschiedene Fälle. Offenbar chronologisch geordnet.«
    »Du hast sie in die Hände bekommen‹? Wie denn?«
    »Der Postbote war so freundlich, sie mir zuzustellen. Briefpost, abgestempelt in Downtown.«
    »Und du hast keine Ahnung, wem du die Überraschung zu verdanken hast?«
    »Ich muss wohl einen heimlichen Bewunderer haben.«
    »Tatortfotos«, sagte Milo.
    »Oder vielleicht hat ja irgendjemand einen ganz besonders schmutzigen Abenteuerurlaub gemacht und beschlossen, ein Erinnerungsalbum anzulegen.« Das Anklopf-Signal ertönte. Normalerweise ignoriere ich die Störung, aber vielleicht war es ja Robin, die aus Portland anrief. »Bleib mal eben dran.«
    Klick .
    »Hallo, Sir«, sagte eine fröhliche Frauenstimme. »Sind Sie in Ihrem Haushalt derjenige, der die Telefonrechnung bezahlt?«
    »Nein, ich bin bloß der Hausfreund«, erwiderte ich und wollte wieder zu Milo umstellen. Amtszeichen. Vielleicht hatte er einen dringenden Anruf bekommen. Ich tippte seine Durchwahl ein und hatte die Zentrale des Dezernats West L. A. dran. Ich machte mir nicht die Mühe, eine Nachricht zu hinterlassen.
    Zwanzig Minuten später klingelte es an der Haustür. Ich hatte immer noch meine Joggingklamotten an, hatte keinen Kaffee gekocht und auch noch nicht den Inhalt des Kühlschranks überprüft, immer das Erste, worauf Milo sich stürzt. Fotos von gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen würden den meisten Menschen den Appetit verderben, aber er ist schließlich schon lange in der Branche tätig, und im Lauf der Zeit hat er Essen als Stressbewältigung zu einer ganz eigenen Kunstform entwickelt.
    Ich öffnete die Tür und sagte: »Das ging aber schnell.«
    »Ich hatte sowieso Mittagspause.« Er ging an mir vorbei bis zu dem Tisch, wo das blaue Lederalbum gut sichtbar lag, machte jedoch keine Anstalten, es in die Hand zu nehmen. Er stand nur da, die Daumen durch die Gürtelschlaufen gesteckt, und nach dem Sprint von der Straße hoch zur Terrasse hob und senkte sich sein Schmerbauch im Rhythmus seines Atmens. Seine grünen Augen wanderten von dem Album zu mir. »Bist du krank oder was?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Und was ist das, ein neuer Look vielleicht?« Sein Wurstfinger zielte auf mein unrasiertes Gesicht.
    »Ich habe bloß meinen Rasierplan auf Freizeitmodus umgestellt.«
    Er rümpfte die Nase und sah sich im Zimmer um. »Komisch, niemand knabbert an meinen Hosenbeinen rum. Ist der kleine Scheißer vielleicht hinten bei Robin?«
    »Nee.«
    »Sie ist doch hier, oder?«, fragte er. »Ihr Truck steht vor dem Haus.«
    »Du musst ein Detektiv sein«, sagte ich. »Leider führt so manche Spur in die Irre. Sie ist nicht da.« Ich deutete auf das Buch. »Wirf doch mal einen Blick da rein; ich stöbere inzwischen in der Speisekammer. Wenn ich irgendetwas finde, was noch nicht versteinert ist, mach ich dir ein Sandwich.«
    »Nein, danke.«
    »Was zu trinken?«
    »Nichts.« Er rührte sich nicht vom Fleck.
    »Was ist denn los?«, fragte ich.
    »Wie soll ich's dir nur schonend beibringen?«, meinte er.
    »Also gut: Du siehst beschissen aus, hier stinkt's wie in einem Altenheim, Robins Truck ist da, sie selbst aber nicht, und wenn ich das Gespräch auf sie bringe, starrst du deine Füße an wie ein Tatverdächtiger beim Verhör. Was, zum Teufel, geht hier vor, Alex?«
    »Ich sehe beschissen aus?«
    »Das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher