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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel
Autoren: Daniel Twardowski
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verängstigte Tier. Er dachte an all die Tode, die er in diesem verfluchten Land gesehen hatte, an die Nächte mit Ishrat, die nackten Leichen in diesem Haus, an Niazoos Hände, die Krokodile, die entstellte Fratze der bösen Absicht, des verschwundenen Mädchens – und schließlich an die Königin von Delhi in ihrem Schaukelstuhl.
    Langsam hob er Ishrats Schwert vom Boden auf, ging zum Fenster und zerschlug die Schnüre, mit denen die Bastmatte befestigt war. Prompt fiel sie auf ihn, mitsamt der Taube, aber ehe er sich noch fluchend befreit hatte, spürte der Vogel den Wind, der in den Raum griff wie ein lebendes Wesen, und flog hinaus in den jetzt rasch heranziehenden Sturm.
     

140.
     
    Der Regen fiel klatschend, in schweren Tropfen. Binnen Minuten stieg von der heißen Erde ein dünner Schleier verdunstender Feuchtigkeit auf, der Gowers bis zu den Knien reichte.
    Bei seinen ersten Schritten auf dem langen Weg hinunter in den weißen Süden der Stadt war es ihm noch einigermaßen gespenstisch vorgekommen, dass sich die Straßen – mitten in der Nacht – mit Hunderten von Menschen bevölkerten, die seltsam somnambul in den schwülen, von schweren Wolken bedeckten Himmel starrrten. Dann aber waren die Wolken geborsten, und ungeheurer Jubel stieg auf. Die Menschen lachten, sangen und tanzten wie Kinder, bis sie völlig durchnässt, aber überglücklich waren.
    Auch in diesem Jahr würden die Felder wieder grün werden, die Flüsse anschwellen und die Erde freundlich sein. Die Frauen würden schwanger werden und Kinder zur Welt bringen, und die Kinder würden zu essen haben und heranwachsen zu neuen Menschen und neuem Leben, und das große Lied würde weitergesungen.
    Erst am Tank Square, in der Old Court House Street waren deutlich weniger Menschen unterwegs, denn der Regen prasselte unangenehm auf den hier gepflasterten Boden, und der Monsun wehte beinahe kalt vom Hafen herauf. In Wirklichkeit war es nur das Wasser auf seiner Haut, das der Wind kühlte.
    John Gowers war nass bis auf die Knochen, als er das Great Eastern Hotel erreichte. Sobald er in die Halle und aus dem Monsun herauskam, begann er zu dampfen, als hätte er in Flammen gestanden und sei gerade noch rechtzeitig gelöscht worden. In seiner Suite angekommen entzündete er sämtliche Lampen und hatte gerade begonnen, seinen geschundenen Körper von den widerstrebenden, an seiner Haut klebenden Kleidern zu befreien, als es klopfte.
    »Ja?«, sagte er müde, zog aber gleichzeitig Ishrats Schwert ein Stück weit aus der Scheide.
    »Guten Abend, Mr. Gowers«, sagte der knochentrockene, noch immer in feines englisches Tuch gekleidete nächtliche Besucher.
    »Guten Abend, Mr. Ruhiman«, antwortete der Investigator, der nach den Schrecken der Nacht keine besondere Überraschung mehr zeigen konnte. Er fand auch nichts dabei, sich weiter zu entkleiden und mit mehreren Handtüchern abzutrocknen.
    »Oh, haben Sie sich verletzt?«, fragte Abdur Ruhiman, der irritiert das Blut an den Tüchern bemerkte, die Gowers fallen ließ.
    »Nicht der Rede wert«, antwortete der Investigator.
    »Nun, ich bin hier«, fuhr der korrekte Beamte fort und sah dabei geflissentlich an Gowers’ Nacktheit, Wunden und Blut vorbei, »weil man höheren Ortes ein wenig besorgt über Ihre Aktivitäten ist, Sir. Sie haben eine recht eindrucksvolle Spur von Leichen hinterlassen, Mr. Gowers, wenn ich das mal so salopp sagen darf! Kanpur, Lakhnau, Benares …«
    Gowers lachte bitter bei dem Gedanken, dass Ruhiman noch nicht im blauen Haus gewesen war. »Dann wird es Sie freuen zu hören, dass meine Aktivitäten in diesem Land beendet sind, Mr. Ruhiman!«
    »Sie meinen, Sie haben den Fall aufgeklärt?«
    »Sagen wir: Der Fall ist abgeschlossen, soweit ich betroffen bin«, antwortete Gowers und dachte an die Taube, die in diesem Augenblick in den Norden flog.
    »Das sind in der Tat gute Nachrichten, Mr. Gowers«, sagte Ruhiman, der sich bereits Sorgen darüber gemacht hatte, das Engagement des Amerikaners seinen Vorgesetzten gegenüber noch länger vertreten zu müssen. »Darf ich fragen …«
    »Nein«, erwiderte Gowers müde.
    »… was ich jetzt noch für Sie tun kann, Sir«, beendete Ruhiman seinen Satz.
    »Wenn Sie mein Geld dabeihaben, nur noch wenig«, antwortete der Investigator und legte sich vorsichtig und erschöpft auf die weißen Laken. Ruhiman zog einen Scheck hervor und wollte ihn dem Mann in die Hand drücken, ließ ihn dann aber nur auf das Bett fallen.
    »Das Bankhaus
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