Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
ein wenig zurück, denn er dachte an eine Schlange oder etwas ähnlich Giftiges. Es sah dem Menschen, den er so lange gejagt hatte, nicht ähnlich, ganz zuletzt aufzugeben.
    »Einen letzten Tod, John Gowers«, erwiderte die böse Absicht prompt und lachte zischend über seine offensichtliche Feigheit. Wie war dieser Mann ihren Kindern entkommen?
    »Wessen Tod?«
    »Wer ist denn noch übrig, John Gowers?«
    »Zinat Mahal Begum von Oudh und Delhi«, murmelte der Investigator, und ehe er sie zurückhalten konnte, sprang in diesem Moment Ishrat auf die unheimliche Gestalt zu, denn nun wusste sie sicher, dass endlich der Todfeind ihrer Herrin vor ihr stand. Die Laterne, die sie zuvor auf den Boden gestellt hatte, vergrößerte und verzerrte die beiden tanzenden Schatten, die bei dieser raschen Bewegung an der Wand hochsprangen und aus deren Vereinigung plötzlich ein Vogel herausflatterte.
    Raheema Raja hatte der großen Angreiferin die Taube entgegengeworfen, und Ishrat, die ihr Schwert schon erhoben hatte, wurde dadurch für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt. In diesem Moment drang der Dolch in ihre linke Brust ein, rutschte am harten Knochen des Brustbeins entlang und trat mit einem Schwall Blut wieder aus; die Wunde war tief, aber sie allein würde nicht tödlich sein. Dennoch zwang der Schock die Leibwächterin auf die Knie, das Schwert fiel zu Boden, und mit bloßen Händen krallte sich Ishrat an den Gewändern der dunklen Königin fest.
    Alles war so schnell vor sich gegangen, dass Gowers seine Waffe nicht hätte abfeuern können, auch wenn er ein besserer Schütze gewesen wäre. Dann lähmte ihn das pure Entsetzen. Denn als Ishrat zerrend und ziehend das Tuch vom Gesicht der bösen Absicht gerissen hatte, sah er in eine grinsende Maske des Todes.
     

138.
     
    Der Rückweg über die schräg aus dem Meer steigenden Schotterstrände von Beechey Island zurück zur Landenge der Gräber und dem im Eis ankernden Schiff war in ein gespenstisches Licht getaucht. Die Sonne, vor etwas über zwei Stunden erst untergegangen und auch jetzt noch hinter den hundertfünfzig Meter hohen Kliffs verborgen, warf den riesigen Schatten der schroffen, kantigen Küstenlinie schon wieder bis weit hinaus auf die gefrorene Ebene der Union Bay. Während der gezackte Rand der steilen, schneebedeckten Klippen aufglänzte wie eine Borte aus hellem Feuer und auch das Eis weit draußen unter den ersten Strahlen der Sonne funkelte und strahlte, stapften die vier Männer durch einen tiefen, kalten Schatten und versanken manchmal bis über die Knöchel in dem feinen Geröll, das Wind und Gezeiten in jahrtausendelanger Arbeit von den nackten grauen Felsen gekratzt hatten.
    Die Kapitäne hatten die Kragen ihrer schweren Seemäntel hochgeschlagen und der Junge einen braunen Schal fest um Ohren und Nase geschlungen. McClure ließ sich ein wenig zurückfallen, um ihm gut zuzureden. Er fürchtete, dass John sich zu Dummheiten hinreißen lassen könnte, wenn ihm erst richtig bewusst würde, dass die lange Reise und die Entdeckung der Nordwestpassage ihm keinen Cent einbringen sollten. Dabei hatte er keine Angst um den Jungen; eher würde wohl der selbstgefällige alte Mann mit der roten Samtmütze in einer dunklen und stürmischen Nacht über Bord gehen.
    »Ich hoffe, Sie nehmen sich das Ganze nicht so zu Herzen, Mr. Gowers«, begann der Kapitän. »Und was Ihre Lay betrifft: Es wird in England zu diversen Verhandlungen vor dem Kriegsgericht kommen. Schließlich wurden nicht weniger als fünf Schiffe aufgegeben. Dabei wird man auch die übrigen Entscheidungen des Kommandierenden überprüfen, sodass über Ihre Sache noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.«
    »Ja, Sir«, erwiderte John lediglich und stapfte ansonsten wortlos neben seinem Kapitän her. Tatsächlich nahm es der Bursche für McClures Geschmack etwas zu gelassen auf, dass man ihn gerade aus der Royal Navy hinausgeworfen hatte! War ihm nicht klar, dass das sein berufliches Fortkommen, ja sein ganzes Leben empfindlich belasten konnte? Er würde auf keinem englischen Schiff mehr eine Heuer bekommen, nicht einmal als Walfänger – und vielleicht als Dockarbeiter, vielleicht aber auch als Schmuggler enden.
    »Ich werde versuchen, Ihnen auf jeden Fall saubere Papiere zu verschaffen«, beruhigte McClure eher sich selbst als den Jungen und lehnte sich damit sehr weit aus dem Fenster seerechtlicher Legalität. Es kam allerdings auch nicht zum ersten Mal vor, dass gute Seeleute, raue Burschen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher