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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel
Autoren: Daniel Twardowski
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mit dem Gesetz in Konflikt gerieten und dann unter einem neuen Namen weiter zur See fuhren. Bisweilen sahen die Behörden dabei sogar ganz gern durch die Finger, denn die Gefängnisse waren ohnehin überfüllt, wohingegen gute Matrosen auf den Schiffen Ihrer Majestät immer gebraucht wurden.
    »Danke, Sir«, sagte John höflich – aber auch nicht mehr.
    »Die Sache scheint Sie ja nicht besonders mitzunehmen«, bemerkte McClure jetzt ein wenig gereizt durch die Tatsache, dass der junge Mann so gar keines Zuspruchs bedurfte.
    »Entschuldigung, Sir«, erwiderte John trocken, »aber ich denke gerade über etwas anderes nach.«
    McClure blieb mit offenem Mund stehen; dann zerbiss er einen Fluch zwischen seinen Zähnen, schob die Hände tief in die Manteltaschen und beschloss, nie wieder mit John Gowers zu reden.
    Als sie zu dem einsamen kleinen Friedhof zurückkamen, war die Morgensonne schon wieder hinter stahlgrauen Wolken verschwunden, und es begann ein wenig zu schneien. Sie sahen, dass der Sargdeckel abgehoben war und Doktor Armstrong noch in der Grube kniete, um den Leichnam zu untersuchen.
    »Na?«, fragte Kellett rau. »Wie geht’s Ihrem Patienten?«
    »Ich bin sehr überrascht«, antwortete der Arzt.
    »Und worüber, wenn man fragen darf?«, bemerkte McClintock, als Armstrong dem nichts mehr hinzufügte.
    »Er wurde bereits obduziert, Sir. Offenbar direkt nach seinem Tod. Die Nähte sehen aus wie eben erst gelegt!« Alexander Armstrong sagte nicht, dass er mit den Tränen gekämpft hatte, als er diese letzten Spuren der Arbeit seines Kollegen Harry D. S. Goodsir, Schiffsarzt auf der Erebus , begutachtet hatte. Sie waren befreundet gewesen, hatten gemeinsam in Oxford studiert, und Harry war sogar mit einem Mädchen verlobt, das er, Alex, ihm vorgestellt hatte.
    »Und was sagt uns das?«, fragte Kellett weiter.
    »Wie oft kommt es denn vor, dass ein toter Seemann obduziert wird?«, fragte Armstrong gereizt zurück.
    Kellett stutzte und erforschte dann kurz sein Gedächtnis. »Kann nicht allzu oft sein«, gab er dann zu.
    »Man führt eine Obduktion nur aus einem einzigen Grund durch«, dozierte jetzt der Arzt, »weil man nicht weiß, woran jemand gestorben ist.«
    »Sie meinen, der Mann ist überraschend gestorben?«, fragte McClure.
    Armstrong schüttelte den Kopf. »Nein, dazu ist er zu ausgemergelt. Er muss schon länger krank gewesen sein.«
    »Also war die Krankheit unbekannt?«, fragte Kellett.
    »Zumindest die Todesursache«, sagte der Arzt. »Aber da ist noch etwas. Man führt eine Obduktion an Bord eines Schiffes auch nicht einfach aus wissenschaftlichem Interesse durch.«
    »Sie meinen: Es könnten noch andere Männer erkrankt gewesen sein?!«, schloss McClure. Der Doktor nickte bedeutsam.
    »Spannend!«, sagte McClintock nach einer Weile. »Schade, dass uns der arme Hartnell nicht mehr sagen kann, wo ihn der Schuh gedrückt hat.«
    »Entschuldigung, Sir«, sagte John Gowers, der in diesem Moment seine Überlegungen beendet hatte. »Aber ich glaube, er kann es.«
    »Was zum Teufel soll das denn heißen?«, erwiderte McClintock.
    »Sein Grabspruch, Sir«, sagte John, »ist ein Vers des Propheten Haggai.«
    »Was Sie nicht sagen?!«
    »So spricht der Herr Zebaoth: Schauet, wie es euch ergeht!« , zitierte Miertsching, der seit mehr als zwei Stunden am Grab gebetet hatte wie ein mittelalterlicher Mönch in den Seziersälen der Universitäten von Padua oder Salerno. Jetzt starrte er nur verwundert den jungen Davy Jones an, auf dessen Bekehrung er ebenso lange wie fruchtlose Mühen verwendet hatte und der sich nun so ungewöhnlich bibelfest zeigte. Der Prophet Haggai jedenfalls rangierte selbst bei den Herrnhuter Brüdern nur unter »ferner liefen«.
    »Schaut, wie es euch ergeht«, sagte John. »Ihr säet viel und bringt wenig ein; ihr esst und werdet doch nicht satt; ihr trinkt und bleibt doch durstig; ihr kleidet euch und könnt euch doch nicht erwärmen; und«, er warf McClure ein seltsames, fast vertrauliches Lächeln zu, »und wer Geld verdient, der legt’s in einen löchrigen Beutel.« Der Ire schüttelte nur den Kopf über den Jungen.
    »Denn ihr wartet wohl auf viel, aber siehe, es wird wenig; und wenn ihr’s schon heimbringt, so blase ich’s weg!«, ergänzte der Missionar. »Aber das sagt doch nur, dass des Menschen Tun nichtig ist vor Gott«, fügte er leise hinzu.
    »Oder dass mit dem Proviant etwas nicht stimmte«, sagte John trocken.
    Während die Offiziere und der Arzt diese neue
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