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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel
Autoren: Daniel Twardowski
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Spekulation samt ihrer verblüffenden Beweisführung sofort heiß diskutierten, 11 schaute der Junge jetzt in das Grab hinunter, in das Gesicht John Hartnells. Die linke Seite war noch völlig von klarem Eis bedeckt, aber man sah deutlich, dass die Austrocknung seine Lippen weit zurückgezogen und aufgeworfen hatte, fast, als würde er die Zähne fletschen – in ohnmächtiger, qualvoller Wut über seinen sinnlosen Tod.
     

139.
     
    Diese Frau war einmal sehr schön gewesen, aber man hatte ihr vor langer Zeit beide Lippen abgeschnitten, und das ständige Grinsen zweier Zahnreihen entstellte die untere Hälfte ihres Gesichts zur grausigen Karikatur eines Totenschädels. Ölgetränkte Tücher hatten zwar das völlige Austrocknen ihrer Mundhöhle, der Zunge, des Rachens aufgehalten, aber in jetzt dreißig Jahren nicht verhindern können, dass ihre Zähne, ihres natürlichen Schutzes beraubt, nach und nach faul und schwarz geworden und zum Teil herausgefallen waren.
    Gowers sah ihre rote Zunge in diesem lückenhaften Käfig spielen, als sie sagte: »Was die Kinder nicht taten, wird die Mutter vollenden!« Noch einmal erwachte die jugendliche Rossbändigerin in Raheema Raja von Gwalior, und sie rammte Ishrat, die noch immer ihre Schultern umklammert hielt, ein Knie in den Bauch, trat sie zur Seite und kam langsam auf Gowers zu.
    Der Investigator erhob den Revolver, aber seine Hand zitterte, und er wich vor diesem furchtbaren Zwitterwesen zwischen Leben und Tod zurück.
    »Wer hat Ihnen das angetan?«, fragte er, obwohl er es wusste und nur Zeit gewinnen wollte.
    »Wer hat Sie denn geschickt?« Sie spürte seine Angst und ging schneller, den Dolch erhoben, von dem Ishrats Blut auf ihren Arm tropfte.
    Er wusste, dass er schießen musste, aber ihre Augen, ihr halb totes Gesicht bannten ihn, und er drehte den Kopf zur Seite, als er abdrückte. Es war ein schlechter Schuss, und er hielt sie kaum auf.
    Noch vier Schritte. Der zweite Schuss zerriss ihren Bauch, und sie hielt kurz an, zwang ihren Körper aber dann weiter auf den Mann zu. Noch zwei Schritte. Aus kürzester Distanz traf der dritte Schuss ihre Hand, riss drei Finger ab, und der Dolch flog weit zurück in den düsteren Raum. Fast im gleichen Moment stürzte sie sich auf ihn, trat, schlug und schaffte es tatsächlich, Gowers zu Boden zu werfen. Sie fiel auf ihn, und erst der vierte Schuss, aufgesetzt unter ihren Rippenbogen, traf ihre Lunge und war tödlich.
    Ihr Körper bäumte sich unter dem Schlag auf wie im Liebesakt, dann fiel ihr Kopf vornüber auf sein Gesicht, und er sah aus nächster Nähe, wie der Lebensfunke in ihren dunklen Augen erlosch. Schwarzes Blut drang durch die hasserfüllt zusammengebissenen Zähne und lief ihm auf Hals und Wange.
    Keuchend wälzte er die Leiche von seinem Körper und erhob sich, um nach Ishrat zu sehen. Die Leibwächterin war auf die Seite gefallen und lag in einem kleinen See ihres eigenen Blutes. Dennoch hatte sie nicht nach der Wunde, sondern nach ihrem Schwert gegriffen.
    »Sie ist tot«, sagte Gowers. »Es ist vorbei!« Aber das war es nicht.
    Als er sich über sie beugte, führte sie einen raschen Schlag gegen ihn, aber er hatte zuletzt in ihre Augen gesehen und darin ihre Absicht erkannt. Deshalb brachte er gerade noch rechtzeitig seine rechte Hand nach vorn, und das Schwert zerschnitt nur die dicke Bandage und den obersten Teil seines Handgelenks. Rasend vor Wut über diese letzte Verwundung trat er gegen ihren Arm und stand dann auf ihrer Hand, während das Gift sich immer schneller durch ihre Adern fraß.
    »Warum?«, schrie er.
    »Befehl«, antwortete sie und spannte zum letzten Mal alle Muskeln an gegen das Zittern, das nach und nach ihren ganzen Körper erfasste.
    Er unternahm keinen zweiten Versuch, es ihr leichter zu machen, und sah noch etwa eine Minute lang ihrem Todeskampf zu. Schließlich entspannten sich ihre Glieder, und ihre Seele trat wieder in den endlosen Kreislauf ein.
    Die Taube war währenddessen in dem hohen Raum aufgeregt hierhin und dorthin geflogen, hatte immer wieder nur Wände gestreift und kein offenes Ende gefunden. Jetzt krallte sie sich in ihrer Panik an einer der Bastmatten fest, hinter denen sie den Wind spürte, ohne ihn erreichen zu können.
    Gowers fluchte wie ein Verdammter, während er versuchte, aus der zerrissenen Bandage einen neuen Verband für sein blutendes Handgelenk zu machen. Als es ihm endlich gelungen war, lehnte er sich gegen die Wand, und dabei sah er das völlig
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