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Das blaue Siegel

Das blaue Siegel

Titel: Das blaue Siegel
Autoren: Daniel Twardowski
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lang umgeben hatte. Und die zerfurchten Stirnen, schneebedeckten Kämme, jähen Abbruchkanten und scharf umrissenen Gipfel der riesigen Eisberge sprachen ganz zuletzt doch noch zu ihm: nicht wild, nicht drohend. Sagten ihm einfach mit der Gelassenheit, aber auch Unbeirrbarkeit vieler Jahrtausende, was die nubische Wüste den Kriegern des Kambyses und der Dschungel den Königen von Angkor gesagt hatte: Ihr seid nicht da gewesen!
     

142.
     
    Sie hatten völlig vergessen, dass es grüne Länder gab, Vieh auf den Weiden, das fette Gras englischer Hügel, Ackerland und Gewächse, die größer waren als zehn Zentimeter. Die Städte hingegen, die Maschinen, Fabriken, Schlote, technischen Wunderwerke, die Waffen, die Gesetze, Hierarchien und das Geld hatten sie immer bei sich gehabt.
    Um nicht mehr Zeit zu verlieren als nötig, mietete Kapitän Pullen am 7. Oktober 1854 einen Dampfer, der die Northstar die grünen Ufer der Themse hinauf bis zur Reede von Woolwich zog. Ihre Augen verschlangen diesen herrlichen Morgen, die Droschken, Dampfzüge, das Gewimmel geschäftiger Menschen, die von hier nach dort wanderten, Mädchen in wehenden Röcken, die manchmal sogar zurückwinkten, sie aber nicht weiter beachteten. Inzwischen wunderten sie sich ein wenig, dass sie so gar nicht gefeiert wurden. Aber nicht nur die Schönheit, auch der Wahnsinn ihrer Heimat hatte sie wieder.
    Als sie in Woolwich Yard Anker warfen, als einzelne Männer sogar schon von Bord gegangen waren, um den teuren Boden des Vaterlandes zu küssen, kam der schriftliche Befehl, dass die Northstar im Kriegshafen Sheerness einzulaufen habe. Also fuhren sie die Themse wieder hinunter, am gleichen herrlichen Morgen, wieder vorbei an Vieh, grünen Bäumen, Geschäftigkeit, die so rasch wiederzusehen sie jetzt allerdings schon etwas weniger freute.
    In Sheerness jedoch löste das Rätsel sich auf: Hierher war die Kapelle bestellt, hier war der in den Zeitungen angekündigte Einlaufhafen der tapferen Bezwinger der Nordwestpassage, und hier hatten sich auch die Frauen und Kinder der Offiziere und Mannschaften eingefunden, um die Helden willkommen zu heißen. Fahnen, Jubel, Freudentränen und vaterländische Reden warteten ihrer; aber es gab auch herzzerreißende Szenen, denn einige Frauen, Mütter und Kinder waren vergeblich gekommen.
    Eine völlig instinktlose bürokratische Maschinerie hatte versäumt, diesen armen Menschen zu sagen, dass der Sohn, Gatte und Vater, Ernährer und Liebhaber, den sie so sehnsüchtig erwarteten, längst als gefrorene Leiche die dreieinhalb Kubikmeter Permafrostboden besetzt hielt, die er im Namen Englands und seiner Königin erobert hatte. Und das war, als würden diese Männer, die Sainsbury, Kerr, Eames, Boyle und der arme Tom Morgan, nach dem eine Frau und vier kleine Kinder Ausschau hielten, noch einmal sterben, öffentlich und mit Musikbegleitung.
    Es war Sergeant Woon, der Mary Morgan den letzten schriftlichen Gruß seines toten Kameraden aushändigte; Morgan hatte ihn John Gowers am Abend seines Todes diktiert und mit seinem Daumenabdruck unterzeichnet. Woon hatte vier Jahre lang alles klaglos ertragen, Hunger und Kälte, die Hoffnungslosigkeit von vier arktischen Wintern, er hatte nicht geweint, als er Thomas Morgan die Augen zudrückte oder ihm zentimeterweise die enge, traurige Grube aushob. Erst jetzt, auf dem Pier von Sheerness, als die noch nicht dreißigjährige Frau, die extra ihr bestes Kleid angezogen hatte, vor ihm in die Knie sank wie vom Blitz geschlagen, fand der eisenharte Mann seine Tränen wieder. Und ein Admiral, der ihm in diesem Moment auf die Schulter geklopft oder ihm einen Orden für seine Tapferkeit verliehen hätte, wäre ein toter Admiral gewesen!
    Miertsching war der Erste, der die Northstar offiziell verließ. Er war kein Mitglied der königlichen Marine und daher ein freier Mann; in seiner abgenutzten, geflickten Seemannsmontur betrat er einen Kaufmannsladen und war eine Viertelstunde später nicht mehr von einem normalen, vielleicht etwas unterernährten englischen Missionar zu unterscheiden. Der Schnellzug brachte ihn nach London und ins Missionshaus der Herrnhuter Brüder, die sich eben zum Nachmittagstee versammelt hatten und den verlorenen Sohn mit einer Hymne begrüßten.
    Auch John Gowers, noch im Eis unehrenhaft entlassen, konnte gehen, wohin er wollte, und entschied sich für ein Bordell der gehobenen Preisklasse im Süden Londons. Alle anderen mussten erst schriftlich um Urlaub
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