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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen
Autoren: Monika Feth
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liebenswert.
    Siebenhundertsiebenundsiebzig. Wie viel war das mit sieben multipliziert?
    Im Kopfrechnen war Mara schwach. Sie konnte beim anschließenden Lied nicht mitsingen, weil sie immer noch rechnete. Fünftausendirgendwas. Sie verhedderte sich jedes Mal.
    Karen brachte sie wieder in ihr Zimmer zurück. Ihre Lippen waren dünne, farblose Striche in einem völlig ausdruckslosen Gesicht. Mara fragte sich, was sie wohl gerade dachte, ob sie überhaupt etwas dachte. Die Schlüssel, die Karen am Gürtel ihres Gewandes trug, klimperten leise.
    Wortlos hielt sie Mara die Tür auf und schloss hinter ihr ab.
    Kurze Zeit später kam Elsbeth mit dem Frühstück. Auch sie hatte den Schlüsselbund am Gürtel befestigt. Mara konnte den Blick nicht davon abwenden. Ihr Weg in die Freiheit, sicher verwahrt in den Falten zweier roter Gewänder.
    Elsbeth stellte das Tablett auf dem Tisch ab und ging wieder hinaus, ohne ein Wort zu sagen, ohne Mara auch nur anzusehen. Einer der Schlüssel drehte sich im Schloss und Mara hörte, wie Elsbeths Schritte sich entfernten.
    Sie würde sich im Schweigen einrichten müssen.
    Apfelsinensaft, Brot, Butter und Honig. Und Tee. Starker, heißer, wundervoller Tee. Dankbar trank Mara ihn und wärmte sich daran. Ihr war so kalt vom Alleinsein.
    Sie aß und trank, stand dann auf und ging im Zimmer umher. Durch das Fenster konnte sie ein Stück Himmel sehen, blau und schön. Sie wünschte, sie wäre ein Vogel. Das Fenster war gekippt. Ein kleiner Vogel hätte leicht hindurchgepasst.
    Mara setzte sich auf das Bett und zog die Beine an. Sie legte den Kopf auf die Knie und dachte über Vögel nach. Ein Adler wäre viel zu groß. Obwohl sie sich gern in einen Adler verwandeln würde. Auch Schleiereule, Bussard oder Falke kamen nicht in Frage.
    Wellensittich? Zu geschwätzig. Kanarienvogel? Zu zart. Und beide für die Freiheit nicht geeignet. Rotkehlchen? Zu große Ähnlichkeit mit dem Rot der Gesetzesfrauen. Spatz? Nichts Besonderes. Keine Schönheit und nicht eben der Inbegriff von Würde. Aber klein, frech und robust. Und unauffällig. Spatzen kamen durch jeden Winter. Im Frühling bauten sie ein Nest und kümmerten sich um die Aufzucht ihrer Jungen.
    Stimmte das? Mara wusste nichts über Spatzen. Sie wäre jetzt gern in die Bibliothek gegangen, um in einem Lexikon nachzusehen. Überhaupt hätte sie jetzt gern etwas getan. Die Stille dröhnte ihr in den Ohren, die erzwungene Untätigkeit machte ihr Arme und Beine schwer.
    Jana, dachte sie. Rede mit mir.
    Sie nahm die Wanderung durch das Zimmer wieder auf. An den Wänden entlang. Kreuz und quer. Sie beschleunigte und verlangsamte ihre Schritte. Begann zu hüpfen. Auf dem rechten Bein, dem linken. Auf dem linken funktionierte es nicht so gut. Sie verlor immer wieder das Gleichgewicht. Das würde sie üben. Dann hätte sie etwas zu tun.
    Elsbeth holte das Tablett. Schweigend.
    »Elsbeth«, flüsterte Mara, als sie wieder allein war. »Karen.« Sie hatte Wände und Decke im hellen Morgenlicht noch einmal untersucht und war beruhigt – sie wurde nicht abgehört. »Els-beth. Ka-ren. Ka-beth. Els-ren. Ren-beth. Kar-els. Beth-els. Ren-ka.«
    Sie sagte die Namen von hinten auf: »Htebsle. Nerak.«
    Und setzte sich wieder aufs Bett.
    Welchen Unsinn würde sie noch ausprobieren, um in den vier endlosen Wochen nicht durchzudrehen?

    Alle Lehrer waren Kinder des Mondes. Die Schüler ebenfalls. Und daran würde sich, wie La Lune immer wieder betonte, niemals etwas ändern. In mancherlei Hinsicht musste man mit den Menschen draußen und ihren Gesetzen kooperieren. Diese Schule hatte offiziell anerkannt werden müssen, um existieren zu können. Doch im Rahmen dieser erzwungenen Kompromisse gab es jede Menge Spielraum.
    Die Jungen und die Mädchen wurden getrennt voneinander unterrichtet. Darauf legte La Lune großen Wert. Sie vertrat die Ansicht, dass nur so ihre unterschiedlichen Fähigkeiten angemessen gefördert werden konnten.
    Kreatives Schreiben, Ethik und Philosophie waren die wichtigsten Fächer.
    Jana bemühte sich, nicht auf den freien Stuhl neben sich zu achten, doch je weniger sie hinsah, desto deutlicher wurde er ihr bewusst. Niemand würde über das sprechen, was geschehen war, weder in den kommenden Wochen noch danach. Vielleicht würde der eine oder andere manchmal an Mara denken, aber er würde diesen Gedanken rasch wieder verscheuchen.
    Es konnte jeden treffen. Keiner war sicher davor, Schuld auf sich zu laden.
    Jana gab sich einen Ruck. Sie musste
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