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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen
Autoren: Monika Feth
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sich konzentrieren. Kreatives Schreiben war ihr Lieblingsfach. Normalerweise bereiteten Worte ihr keine Mühe. Es machte ihr Freude, mit ihnen zu spielen, und meistens war ihre Hand schneller als ihre Gedanken. Trotzdem fügten sich im fertigen Text die Sätze logisch aneinander. Während die anderen an ihren Stiften kauten und nach Bildern suchten, hatte Jana eher das Problem, sich zwischen all den Bildern, die in ihr aufstiegen, entscheiden zu müssen.
    Heute allerdings fühlte sie sich gehemmt, denn das Thema war
Freiheit
.
    Eine weite Ebene. Das Meer. Felder. Licht. Sonne. Wind. Glück.
    Sie ordnete die Bilder. Dachte über das Gegenteil von Freiheit nach.
    Mauern. Hecken. Verbote. Schwarz. Ein abgeschlossener Raum. Das Strafhaus.
    So schnell konnte man sich verraten.
    Gedanken. Sie sollten frei sein. Wild und ungehemmt. Man sollte sie fliegen lassen dürfen. Nicht beschneiden, einsperren, verbieten.
    Mara. Im Strafhaus. In einem Zimmer? Abgeschlossen?
    Freiheit gehört zu den Grundrechten des Menschen
, schrieb Jana
. Ein Mensch ohne Freiheit ist wie ein Vogel, dem man die Flügel gestutzt hat. Er ist wie ein Fisch, der auf dem Trockenen zappelt. Wie ein angebundener Luftballon. Ein Mensch ohne Freiheit hat seine Würde verloren.
    Das war ungefährlich. Es widersprach in keinem Punkt den Lehren der Kinder des Mondes.
    Es gibt eine physische und eine psychische Freiheit
, schrieb Jana,
und beide darf man niemandem nehmen.
    Allmählich bewegte sie sich auf schlüpfrigem Boden. Selbst die Gesetze der Welt draußen erlaubten es, Menschen unter bestimmten Voraussetzungen die Freiheit zu nehmen. Freiheit war also niemals absolut. Bedeutete das, dass man sie sich verdienen musste? Und dass man sie ebenso gut verspielen konnte?
    Viel lieber schrieb Jana Geschichten.
    Ihr kam der Verdacht, dass dieses Thema eigens wegen Mara ausgewählt worden war. Umso vorsichtiger musste sie sein, denn ihr Text würde besonders gründlich gelesen werden. Es ging nicht nur um Noten. Es ging um Zensur. Hießen Noten deshalb auch Zensuren?
    Ihre Gedanken waren blockiert. Plötzlich kaute sie, wie die anderen, an ihrem Stift. Zögerte.
    Neben ihr auf dem Boden war ein Sonnenfleck, geteilt vom Holz des Fensterkreuzes.
    In der Welt draußen war das Kreuz ein Symbol. Ein schreckliches Symbol.
    La Lune wies in ihren Reden immer wieder darauf hin, dass es bei den Kindern des Mondes keine Leidenssymbole gab. Dass ihre Religion eine Religion des Glücks war.
    Wie passte das Strafhaus da hinein?
    Es war ein Tabu. Man sprach nicht einmal das Wort aus. Und um diejenigen, die es von innen gesehen hatten, machte man noch lange nach ihrer Entlassung einen ängstlichen Bogen.
    Also gibt es doch ein Leidenssymbol bei uns, dachte Jana. Ein großes, unübersehbares.
    Es leuchtete in der Sonne wie ein von Wind und Wasser glatt geschliffener Kreidefelsen. Nachts schimmerte es wie eine riesige Perle im Mondlicht.
    Der Ort für das Strafhaus war mit Bedacht gewählt worden. Oben auf dem Hügel, der höchsten Erhebung weit und breit, war es von fast überall zu sehen, und wenn man es anschaute, erforschte man unwillkürlich sein Gewissen.
    Tiere
, schrieb Jana,
sind, selbst wenn sie nicht in Gefangenschaft leben, nicht wirklich frei, weil sie kein Bewusstsein ihrer Freiheit haben.
    Und deshalb, dachte sie, ist Freiheit eigentlich eine Illusion.
    War das richtig?
    Blockiert. Ihre Gedanken kamen nicht in Schwung. Jana zweifelte an ihnen, sobald sie sie im Kopf formuliert hatte. Sie wusste sehr genau, was sie schreiben sollte, was man von ihr erwartete.
    Wir alle sind freie Geschöpfe. Wir haben die Freiheit, uns für die Mondheit zu entscheiden, die Freiheit, unser Leben in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen.
    Hunderte von Malen hatte sie diese Sätze gehört, gedacht, nachgeplappert. Warum fiel es ihr auf einmal so schwer, sie niederzuschreiben?
    Draußen kam Wind auf. Er schüttelte die Kronen der Bäume kräftig durch. Wolken zogen auf. Bald würde es ein Gewitter geben.
    Freiheit, dachte Jana, ist die Möglichkeit, sich ohne Angst zu äußern. Freiheit wäre, aufstehen, zum Strafhaus gehen und nach Mara fragen zu dürfen.
    Die anderen schrieben wie verrückt. Jana sah ihnen zu. Sie war nicht nervös, weil sie nichts zustande brachte. Sie war ganz ruhig.
    Der Sonnenfleck neben ihr auf dem Boden verblasste. Der Himmel verdunkelte sich. Jana malte Zeichen auf das Papier, Zeichen ohne Bedeutung.
    Als die Zeit um war, hatte sie eine ganze Seite mit diesen
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