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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen
Autoren: Monika Feth
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dahinter liegt das Meer. Es ist wie auf den Fotos, die ich gesehen habe, weit bis an den Rand des Himmels.
    Ich kann schreiben, was und so lange ich will. Muss das Tagebuch nicht verstecken. Es ist ein neues. Frau Schubert hat es mir geschenkt. Das alte habe ich in meinem alten Leben zurückgelassen.
    Frau Schubert hat mir auch Kleider geschenkt. Das Gewand habe ich mit einer Schere zerschnitten und im Garten vergraben, hinten an der Hecke. Frau Schubert hat mich nicht gefragt, warum ich das getan habe. Sie fragt mich überhaupt nichts. Aber wenn ich reden möchte, hört sie mir zu.
    Sie erinnert mich an Gertrud, obwohl sie viel älter ist. Ihr Mann ist vor ein paar Jahren gestorben. Seitdem lebt sie allein in diesem Haus, das voller Bücher ist.
    Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, Jeans zu tragen und bunte Pullover. Wenn ich mich in dem großen Spiegel sehe, der in der Diele hängt, muss ich mir jedes Mal erst sagen: Das bin ich.
    Miri liegt nicht mehr auf der Intensivstation. Sie haben sie in ein normales Krankenzimmer verlegt. »Es war fünf Minuten vor zwölf«, hat der Arzt zu Marlon gesagt. Es ist wirklich eine Hirnhautentzündung gewesen.
    Marlon besucht Miri jeden Tag. Er hat ihr erklärt, was geschehen ist, und ihre Fragen beantwortet. Er hat ihr gesagt, dass ich sie nicht verlassen habe, dass ich an einem sicheren Ort darauf warte, wieder mit ihr zusammen zu sein. Wann das sein wird und wie, das wissen wir alle noch nicht.
    Er hat ihr auch versprochen, bald einmal den Hund ins Krankenhaus zu schmuggeln. Wenn das überhaupt jemand schafft, dann Marlon.
    Jeden Abend ruft er mich an. Wir nennen den Ort, in dem ich jetzt lebe, nicht beim Namen. Wir sind sehr vorsichtig.
    Er hat mir das Krankenhaus und die Ärzte und Miris Zimmer genau beschrieben, damit ich mir alles vorstellen kann.
    Marlon sagt, ich gelte als vermisst. Viele Mädchen in meinem Alter verschwinden in der Welt draußen, die ganz allmählich zu meiner Welt wird, und tauchen nie oder erst sehr viel später wieder auf.
    Es ist sonderbar, verschollen zu sein und sich doch so lebendig zu fühlen.
    Nachts habe ich schlimme Träume. Das wird noch lange so sein. Es wird auch noch lange so sein, dass ich bei Vollmond die Vorhänge zuziehe.
    Sobald Gras über die Sache gewachsen ist, hat der Pfarrer gesagt, darf ich Mara und Timon wieder sehen.
    Und Gras, das weiß ich, wächst sehr schnell.

Über das Buch
    »Ich darf nicht zweifeln.«
    Diesen Satz schreibt die siebzehnjährige Jana in ihr geheimes Tagebuch, an dem Abend, an dem ihre beste Freundin Mara ins Strafhaus verbannt wurde. In diesem kahlweiß gestrichenen, spärlich eingerichteten Haus wird Mara nun einen Monat verbringen müssen – ohne Ansprechpartner, ohne die Möglichkeit, sich anders zu beschäftigen als durch die Lektüre des einzigen zugänglichen Buches: der Bibel der »Kinder des Mondes«, der Gemeinschaft, der Jana und Mara angehören. Einen Monat lang wird sich Mara darin üben, nicht schwach zu werden, nicht der Versuchung nachzugeben, die Botschaften La Lunes, der Führerin der Gemeinschaft, zu lesen, von der sie sich innerlich längst abgewandt hat:
    La Lune ist die Güte.
    La Lune ist Verständnis.
    La Lune ist unser Leben.
    Für Jana, die im Gegensatz zu ihrer aufmüpfigen Freundin niemals an den Idealen der »Kinder des Mondes« gezweifelt hat, beginnt mit der harten, ungerechten Bestrafung ihrer Freundin der Prozess der inneren Ablösung von der Sekte. Maras Vergehen: Eine verbotene Liebesbeziehung zu Timon, dem Jungen, den sie in zwei Jahren ohnehin hätte heiraten sollen.
    »Maras einzige Schuld ist es gewesen, sich zu verlieben. Wenn aber La Lune, wie es im Buch heißt, die Liebe ist, wie kann sie Mara dann für die Liebe bestrafen?«
    Nun, da sie erstmals hautnah erlebt, mit welcher Härte die Kinder des Mondes Grenzüberschreitungen strafen, sieht Jana deutlicher als zuvor die Kehrseite dieser durch die gemeinsame Liebe zu La Lune und der Göttin der Mondheit vereinten Gemeinschaft: einer Gemeinschaft, die tiefe Freundschaften zwischen einzelnen Individuen nicht zulässt und das Leben ihrer Mitglieder bis in die Träume hinein kontrolliert. Längst hat auch Jana gelernt, ihre wahren Träume vor den Traumdeutern zu verschweigen und ihre Gedanken nur Mara und Gertrud, der Bibliothekarin, anzuvertrauen.
    Ein äußeres Ereignis treibt Janas innere Loslösung von den Kindern des Mondes voran: Als sie mit der kleinen Miri zusammen im Wald spielt, trifft sie auf Marlon,
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