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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen
Autoren: Monika Feth
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brachte sie wieder ins Bett, deckte sie zu und kehrte zu Miri zurück. Sie hatte schon lange keine Kassette mehr eingelegt, weil Miri inzwischen jedes Geräusch als schmerzhaft empfand. Sie hatte auch kein Licht gemacht, weil es Miri in den Augen wehtat. Es war dämmrig und still. Man hörte nur den Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte.
    Regentropfen,
    die auf die Erde klopfen...
    Jana war wieder fünf. Sie lag in ihrem Bett und sagte flüsternd Gedichte auf. Wenn sie ihre Stimme hörte, leise, ganz, ganz leise, dann hatte sie weniger Angst. Sie war ein Kind des Mondes. Sie brauchte keine Angst zu haben. Die Mondheit schützte sie und es würde nicht mehr lange dauern und La Lune würde zu ihr kommen. La Lune vertrieb die Schatten mit ihrem Lächeln, mit ihren Händen und mit Worten.
    Und dann ging La Lune wieder fort.
    Und die Schatten krochen aus den Winkeln. Sie flüsterten und lachten. Und wurden immer größer.

    ...die Blumen in den Töpfen
    nicken mit den Köpfen...
    Es war so heiß und stickig. Und Jana musste ganz dringend aufs Klo. Aber dazu musste sie an den Schatten vorbei. Sie weinte. Leise, ganz leise. Damit die Schatten es nicht hörten. Ihr Gesicht wurde nass. Und dann war das ganze Bettzeug nass. Unten. Da, wo keine Tränen hinkommen konnten.
    Und sie blieb in dem nassen Bettzeug liegen. Liebe Mondheit, mach, dass es keiner merkt!
    »Jana?«
    »Ich bin hier, Miri.«
    »Jana? Jana!«
    »Psch! Ich bin hier, Miri. Da. Nimm meine Hand. Hab keine Angst. Niemand wird dir etwas tun, hörst du? Niemand.«

    Marlons Vater saß auf einer umgedrehten Kiste im Stall, die Arme auf den gespreizten Beinen, die Kappe immer noch in den Händen. Er sah nicht auf, als sie hereinkamen. Er nickte, als überprüfe er Gedanken, die ihm im Kopf herumgingen.
    »Rolf...«, sagte die Mutter.
    Der Vater hob den Kopf und betrachtete Marlon, der an der Tür lehnte.
    »Wie bist du da nur reingeschlittert, Junge?«
    Es war keine Frage, auf die er eine Antwort erwartete, also schwieg Marlon.
    Der Vater stand auf und hielt sich den Rücken. Er streckte sich und seufzte. »Da haben wir wohl keine Wahl, oder?«
    »Ihr habt die Wahl«, sagte Marlon. »Ich nicht.«
    »Lass uns mit dem Pfarrer sprechen«, sagte der Vater. »Er ist ein gebildeter Mann. Er weiß, was man tun kann.«
    Marlon nickte. Wenn der Vater es nicht vorgeschlagen hätte, hätte er es selbst getan.

    Miri wollte nicht mehr angefasst werden. Sie phantasierte und war mit Worten kaum noch zu erreichen. Obwohl ihr Fieber nicht gesunken war, beschloss Jana, für eine Weile mit dem Kühlen aufzuhören. Sie holte frischen Tee für Linn und Indra und verabreichte ihnen ihre Medizin. Beide hatten sich ein wenig erholt, waren jedoch so müde, dass sie sofort wieder einschliefen.
    Jana warf einen Blick auf die Uhr, bevor sie an Miris Bett zurückkehrte. In zwanzig Minuten würde der Gong in den Häusern die Kinder des Mondes zum Abendessen rufen. Alle würden sich in den Speisesaal begeben und eine Dreiviertelstunde dort bleiben.
    Danach würde Judith kommen, um Jana abzulösen und den Nachtdienst zu übernehmen.
    Sie würde nach den Mädchen sehen und Miris Bett leer vorfinden. Dabei würde sie sich zuerst nichts denken. Sie würde glauben, Jana hätte Miri zur Toilette begleitet.
    Erst nach ein paar Minuten würde sie anfangen, sich zu wundern. Und nachsehen.
    Sie würde Indra und Linn befragen.
    Und Alarm schlagen.
    Jana rieb sich die Hände, die eiskalt waren. Sie sah zum Fenster. Es regnete immer noch. Dicke Tropfen zogen ihre Spuren auf dem Glas.
    Die Uhr. Jana musste wissen, wie spät es war.
    Sie schlich auf den Flur. Noch zwölf Minuten.
    Zuerst war die Zeit so langsam vergangen und jetzt schien sie zu rasen.
    Jana dachte an Gertrud, die nach dem Essen wieder in die Bibliothek zurückgehen würde, um dort auf eine Nachricht zu warten. Aber nicht Jana würde sie ihr bringen.
    Sie wird es verstehen, dachte Jana. Sie wird verstehen, dass ich das Risiko nicht eingehen konnte. Und dann wurde ihr bewusst, dass sie Gertrud vielleicht nie wieder sehen würde.
    Wenn alles gelang.
    Wie würden die anderen sich an sie erinnern?
    Jana? Das war doch dieses Mädchen, das die Mondheit und unsere Ideale verraten hat. Sie hat damals sogar ein hilfloses fünfjähriges Mädchen entführt.
    Die Einzigen, die liebevoll an sie zurückdenken würden, wären Gertrud und Sonja. Und Anna.
    Um Gertrud sorgte Jana sich nicht. Sie war stark und würde die Verhöre unbeschadet überstehen.
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