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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen
Autoren: Monika Feth
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sinnlosen Zeichen gefüllt und sie wusste, sie würde nicht nur eine schlechte Note bekommen, sondern auch die unangenehme Einladung zu einem Gespräch mit Reesa, der Lehrerin.

    Das Gewitter war schnell vorbeigezogen, doch als Marlon auf dem Heimweg war, fing es wieder an zu regnen. Dicke Tropfen klatschten auf die Straße. Der Himmel sah aus, als hätte ihn jemand mit einem dunklen Tuch verhängt. Innerhalb von Sekunden war Marlon bis auf die Haut durchnässt.
    Er liebte Sommerregen. Manchmal lief er mit nacktem Oberkörper hinaus und wälzte sich im nassen Gras. Natürlich nur, wenn keiner zusah. Er spürte oft diese überschüssige Energie, die er nicht loswerden konnte. Eine Energie, die sich entladen musste.
    Früher war der Hund immer mit ihm hinausgelaufen. Begeistert hatte er sich neben ihm im Gras hin und her geworfen. Inzwischen war er zu alt für solche Späße. Im Winter lag er am liebsten in der Küche neben der Heizung, im Sommer vorm Haus in der Sonne. Sein Bart war grau geworden wie der Bart eines alten Mannes und seine Augen glänzten nicht mehr wie noch vor ein paar Jahren. Marlon schob den Gedanken daran rasch beiseite. Der Hund hatte ihn von Kindheit an begleitet. Ein Leben ohne ihn konnte er sich nicht vorstellen.
    Mit den Katzen war es anders. Die kamen und gingen. Meistens lebten sieben, acht von ihnen in der Scheune und im Schuppen, scheinbar bedürfnislose, unempfindliche Tiere, die vor Fremden scheu davonliefen, sich auch den Mitgliedern der Familie nicht wirklich anschlossen.
    Mit dem Hund hatten sie sich arrangiert. Keiner kam dem andern zu nah. Sie beobachteten sich aus der Ferne, es gab keine Auseinandersetzungen, außer wenn eine der Katzen Junge hatte. Dann konnte es schon mal passieren, dass die Mutterkatze auf den Hund losging, doch selbst das kam nur noch äußerst selten vor. Es war, als hätten die Katzen verstanden, dass der Hund ein alter Herr geworden war, der schonend und mit Respekt behandelt werden musste.
    Marlon nahm den Helm ab, um den Regen auf dem Gesicht zu spüren. Und dann packte es ihn wieder. Er hielt an, stellte den Roller ab und rannte die Straße entlang. Große Pfützen hatten sich angesammelt. Er platschte durch sie hindurch, warf den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und fing die Regentropfen auf.
    In der Kurzgeschichte, die er interpretiert hatte, war es um einen Mann gegangen, der die Leute zählen musste, die eine neu gebaute Brücke überquerten. Eine verrückte Geschichte. Der Sinn war Marlon nicht ganz klar gewesen, aber er hatte sein Bestes gegeben. Vielleicht sollte mal einer über einen schreiben, der die Irren zählt, die auf einsamen Landstraßen durch Pfützen rennen und den Regen trinken. Das wäre eine Geschichte.
    Marlon lief zum Roller zurück und setzte den Helm wieder auf. Seine Mutter war immer halb verrückt vor Angst, wenn er mit dem Roller unterwegs war. Sie speicherte sämtliche Unfälle, über die in den Zeitungen berichtet wurde, in ihrem Gedächtnis. Marlon hatte ihr versprechen müssen, niemals ohne Helm zu fahren. Es würde schwer sein, ihr die nassen Haare zu erklären. Sie hatte einen verdammt scharfen Blick.
    Und wirklich: »Warum sind deine Haare nass?«, fragte sie ihn, als er hereinkam.
    Marlon bückte sich nach dem Hund, der ihn mit kraftlosem Schwanzwedeln umkreiste, streichelte ihn und kraulte ihm den Hals.
    »Weil ich auf dem Weg zum Roller ohne Helm durch den Regen gelaufen bin.«
    Seine Mutter betrachtete ihn skeptisch von der Seite.
    »Mama! Ich bin schon mit zwölf Traktor gefahren.«
    »Traktorfahren ist ungefährlich. Da braucht man keinen Helm.« Sie küsste ihn, rubbelte ihm mit den Fingern durchs Haar, leise Gesten der Zärtlichkeit.
    Er hätte sie gern hochgehoben und durch die Luft gewirbelt, aber Greta und Marlene saßen schon am Tisch und beobachteten ihn, als warteten sie darauf, dass er sich eine Blöße gäbe. Also ließ er es bleiben und setzte sich hin.
    »Willst du dich nicht erst umziehen?«, fragte die Mutter. »Du bist ja klatschnass.«
    Das nasse Zeug fühlte sich tatsächlich unangenehm an auf der Haut. Also ging Marlon nach oben und zog sich um. Als er wieder herunterkam, füllte seine Mutter gerade die Teller. Es gab Kartoffeln mit Quarksoße, das Armeleuteessen, wie Marlon es im Stillen nannte. Er hatte Heißhunger auf ein Stück Fleisch, sagte aber nichts.
    Die Schwestern waren mit dem Essen zufrieden. Seit einer Woche waren sie Vegetarierinnen und versuchten, die halbe Welt zu
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