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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen
Autoren: Monika Feth
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sich darüber gewundert, was sie alles entdeckten. In ihm selbst wurden nur diffuse Gefühle ausgelöst, die er nicht in Worte fassen konnte.
    In der Oberstufe hatte er Fotografie gewählt. Auch dieser Kurs wurde von Stauffer geleitet. Marlon sei begabt, hatte er ihm neulich gesagt. Das Lob hatte Marlon verlegen gemacht. Er hatte schnell gelernt, mit der Kamera umzugehen, und es war ihm fast peinlich, wie einfach die Bilder zustande kamen.
    Eine ganze Serie seiner Aufnahmen schmückte inzwischen den Flur zur Aula. Es waren Dorfbilder, nichts Besonderes eigentlich. Schläfrige Höfe in der Nachmittagssonne. Morgendunst auf den Weiden. Ein Baum, dessen Stamm in den Stacheldraht eines Zauns gewachsen war. Die vom Wetter gegerbten Gesichter der Dorfbewohner, ihr Lachen und ihr Ernst. Aus einiger Entfernung die Gebäude der Kinder des Mondes, die tatsächlich ebenso gut auf dem Mond hätten stehen können, bizarr und unwirklich, beinah wie geträumt.
    Auf Marlons Lieblingsbild sah man im Hintergrund das Mädchen in der blauen Hose und der blauen Bluse, wie sie einen Hügel hinaufstieg.
    Dieses Foto hatte Marlon eigentlich gar nicht abgeben wollen. Dann hatte er es doch getan. Weil Stauffer es schon gesehen hatte und der Meinung war, es gehöre unbedingt dazu. Für Stauffer war es nur irgendein Mädchen aus der Sekte.
    Für Marlon nicht. Jedes Mal, wenn er an dem Foto vorbeiging oder wenn er auch nur daran dachte, hüpfte etwas in ihm auf. Er hatte das Mädchen oft gesehen, wenn er auf der Weide beschäftigt war, die dem Gelände der Sekte am nächsten lag. Er kannte ihren Gang und die Art, wie sie manchmal den Kopf in den Nacken legte und ihr Haar ausschüttelte, das ihr bis zu den Schulterblättern reichte. Er kannte auch ihre Stimme, hatte sie ein paar Mal gehört, wenn sie jemandem etwas zurief.
    Und ihr Lachen, das ihn an den Flug eines Vogels erinnerte. Es schwang sich auf und schien hoch in der Luft zu zerplatzen. Es war häufig vorgekommen, dass Marlon sich länger auf der Weide zu schaffen gemacht hatte als nötig, nur um dieses Lachen zu hören.
    Was er nicht kannte, war die Farbe ihrer Augen, aber er hätte wetten mögen, dass sie blau waren, vielleicht mit einem Stich ins Graue.

3
    Nach dem Morgengebet war Mara wieder in ihr Zimmer zurückgebracht worden. Sie hatte seine Ausmaße in der vergangenen Nacht gründlich erforscht, war es unzählige Male abgegangen. Sechs Schritte von der Tür bis unter das Fenster. Fünf Schritte von der einen Wand bis zur anderen. Acht Schritte in der Diagonalen. Ein kleiner Raum ohne eine Spur von Leben darin.
    Geweißte Wände. Das kleine Fenster weit oben eingelassen in das dicke Mauerwerk. Der Himmel dahinter von schwarzen Gitterstäben zerschnitten. Die Einrichtung bestand aus einem schmalen Bett mit weißem Laken und weißer Wäsche, einem Tisch aus gescheuertem Holz und einem Stuhl. Eine runde Deckenleuchte. Wie der Vollmond, ihr Licht genauso kalt. Holzdielen auf dem Boden, angenehm unter den nackten Füßen. Und auf dem Tisch das Buch, das La Lune geschrieben hatte.
    Kein Blatt Papier, kein Stift, nichts, womit Mara sich in dem Monat, der vor ihr lag, hätte beschäftigen können. Außer La Lunes Buch, der Bibel der Kinder des Mondes.
    Mara hatte es noch nicht angerührt. Sie wusste nur zu gut, warum es dort hingelegt worden war. Es sollte ihr helfen, sich zu läutern, sich von dem Vergehen zu reinigen, das sie hierher gebracht hatte. Und deshalb würde sie es nicht aufschlagen, und wenn ihr Hunger nach Worten noch so groß werden würde.
    Nebenan befand sich ein winziges, fensterloses Badezimmer mit Toilette und Waschbecken. Sobald man das Licht anknipste, fing die Lüftungsanlage an zu surren. Zwei weiße Handtücher hingen an silbernen Haken. Über dem Waschbecken war kein Spiegel angebracht. Für vier Wochen sollte alles ausgelöscht werden, sogar Maras Spiegelbild.
    Das Morgengebet hatte in einem speziellen Raum des Strafhauses stattgefunden. Er war vollkommen rund und ganz ohne Möbel. Auch hier waren die Wände nackt und weiß und die kleinen Fenster weit oben in die Mauern eingelassen. Sieben Fenster waren es. Mara hatte sie gezählt, als sie hineingeführt wurde. Sie hatte sie gezählt, wie um sich an etwas festzuhalten.
    Sieben. Sie hatte über die Zahl nachgedacht, während Karen in schleppendem Tonfall vorgebetet hatte. Eine ungerade Zahl. Eine Zahl, die nur durch sich selbst teilbar war. Eine störrische Zahl und deshalb
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