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Das blaue Mädchen

Titel: Das blaue Mädchen
Autoren: Monika Feth
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strafen, das sagte sie immer wieder. Jedes Mal sei es, als schnitte ihr etwas ins Herz.
    Mara richtete sich auf.
    »Ich danke dir, La Lune, und der Mondheit«, sagte sie.
    Zwei Gesetzesfrauen traten an sie heran, fassten sie an den Armen und führten sie hinaus. Ihre roten Gewänder glühten im Sonnenlicht.

Als sie Mara hinausführten, suchte sie meinen Blick. Ihre Augen waren voller Tränen. Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich gesehen hat.
    Hätte ich ihr nur ein Wort sagen können!
    Dreißig Tage ohne Mara. Dreißig Tage ohne die Möglichkeit, mit ihr zu sprechen.
    La Lune ist die Güte.
    La Lune ist das Verständnis.
    La Lune ist unser Leben.
    Ich darf nicht zweifeln.
    Die Gesetzesfrauen sprachen kein Wort, auf dem ganzen Weg nicht. Sie hatten Mara losgelassen, gingen jedoch dicht neben ihr, Karen rechts, Elsbeth links. Ein Fluchtversuch war undenkbar.
    Wohin hätte Mara auch fliehen können? Beinah das ganze Dorf gehörte den Kindern des Mondes und in den wenigen Häusern, die noch von den ursprünglichen Dorfbewohnern bewohnt wurden, wäre sie nicht willkommen gewesen.
    Jeder, der versucht hatte, die Gemeinschaft zu verlassen, war wieder zurückgebracht worden. Die Strafe, die auf einen Fluchtversuch folgte, war wesentlich härter als das Strafhaus. Mara hatte welche nach ihrer Bestrafung gesehen. Gebrochene Menschen. Sie hatte sie nicht wieder erkannt.
    Vorm Kinderhaus spielten die Kinder, ein fröhliches Gewimmel von orangefarbenen Hosen, Röcken und Pullis. Die Kinderfrauen saßen im Schatten eines Kastanienbaums und beaufsichtigten ihre Schützlinge.
    Die Kinder sind unser kostbarster Besitz. Die Kinder sind unsere Zukunft. Die Kinder sind die Strahlen des Mondes.
    Auch Mara war einmal ein Kind gewesen. Sie hatte nur wenige Erinnerungen daran. Erinnerungen führten fort von der Gegenwart. Sie waren nicht auf die Zukunft gerichtet. Erinnerungen konnten gefährlich sein. Besonders für die Älteren. Es gab welche, die ein Leben vor La Lune gehabt hatten.
    Der Weg zum Strafhaus war viel zu kurz. Die Sonne brannte von einem ganz und gar blauen Himmel. Mara hob den Kopf und sah nach oben. Wieder kamen ihr die Tränen, diesmal von der blendenden Helligkeit. Die Vögel zwitscherten. Von weitem konnte Mara ein Hämmern hören und das Tuckern eines Traktors. Sie sog die Geräusche und den Duft des Sommers in sich ein. Das würde sie nun lange nicht mehr können.

    Marlons Mutter hatte das Rosinenbrot in dicke Scheiben geschnitten und sie in den Brotkorb gelegt. Sie hatte Butter, Quark und Hagebuttengelee auf den Tisch gestellt und schenkte nun den Kaffee ein.
    Marlon rieb sich die schmerzenden Hände. Er hatte Handschuhe benutzt, so waren ihm wenigstens Blasen erspart geblieben. Sein Vater las Zeitung. Die Zwillinge machten sich über das Brot her. Sie pulten die Rosinen heraus, die sie seit neuestem nicht mehr mochten, schichteten sie vor ihren Tellern zu kleinen Häufchen.
    Greta und Marlene waren wie eine Person mit zwei Körpern. Sie teilten alles miteinander, einschließlich ihrer Vorlieben und Abneigungen. Für Außenstehende waren sie nicht zu unterscheiden, selbst ihre Stimmen hatten denselben Klang, ein Vorteil, den sie in der Schule hemmungslos ausnutzten. Sie zogen sich nie gleich an, aber sie tauschten oft ihre Kleider untereinander aus. Und so war es mit den Jahren nicht leichter geworden, sie auseinander zu halten, eher schwerer.
    Trotzdem hatte Marlon niemals Probleme damit gehabt. Er hätte nicht erklären können, wie er die beiden unterschied. Er wusste ganz einfach, wen er gerade vor sich hatte. Auch die Eltern verwechselten die Zwillinge nie. Deshalb gab es kein Versteckspiel innerhalb der Familie, keine Täuschungsmanöver.
    Marlon nahm sich zuerst die Rosinen von Marlene, dann die von Greta und steckte sie in den Mund. Wie konnte man Rosinen nicht mögen?
    »Ihr könntet mal ein bisschen bei der Arbeit mit anpacken«, sagte er. »Wieso renn ich mir eigentlich die Hacken ab und ihr macht euch ein gemütliches Leben?«
    »Weil du der Hoferbe bist«, sagte Marlene.
    »Das verpflichtet«, sagte Greta.
    »Scheiß drauf«, sagte Marlon.
    »Euer Bruder hat Recht«, mischte die Mutter sich ein. »Ihr könntet ruhig ein bisschen mehr Interesse für andere Dinge aufbringen als immer nur Jungs und Make-up und die neuesten Frisuren.«
    Sie hatte im Garten gearbeitet. Unter ihren Fingernägeln waren schwarze Ränder. Auf ihrer Nase zeigten sich Spuren eines Sonnenbrands. Marlon betrachtete ihre
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