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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Bestes. Seine Oma fütterte ihn mit pürierten Versionen dessen, was der übrige Haushalt aß, sang ihm vor, versuchte sich im Stricken, wurde eine ebenso zwanghafte Fotografin, wie ihr Mann es einst gewesen war. Der Großvater des Jungen grub alte Illusionen aus, um sie ihm darzubieten – man konnte ihn kaum davon abhalten, Seidentücher und Glitzer hervorzuholen, wenn das Kind nicht gerade schlief – und selbst dann gab es Tricks zu üben, Neuigkeiten zu erfinden.
    Der Junge hielt Verschwinden, Vertauschen, Verwandeln für ganz selbstverständlich, war jedoch erstaunt über die Augenbrauen seines Opas, über Gesichter ganz allgemein, und über einen lila Spielzeughund aus Kordstoff mit gestickten Gesichtszügen, denn Knöpfe oder Ähnliches könnten sich lösen und gefährlich werden. Der Junge liebte diesen Hund abgöttisch. Später wollte er einen Welpen haben, den er großziehen und mit dem er herumrennen würde. Als er fast zwei war, hatte er diese Ansicht vertreten. Er hatte viele, oft sehr energische Ansichten.
    Seine Mutter schien sich am besten sorgen zu können: Der Junge aß gut, hatte aber lange Knochen, war im Grunde von Anfang an mager, sah also nicht aus wie die anderen Babys bei den Vorsorgeuntersuchungen oder in den Läden, wo sie hin und her gefahren wurden. Er war auch nicht so rübenköpfig und träge und hässlich wie diese. Er war außergewöhnlich. Und außergewöhnlich ist nicht immer gut. Es ist das Unverblümte und Ungewöhnliche, was später ein Problem werden könnte. Und er war schnell – fing vielleicht zu früh an zu laufen und schädigte seine Beine – aber man konnte ihn nicht vom Laufen, Tappen, Umfallen abhalten – noch eine Sorge – obwohl ihn die Stürze selten bekümmerten, es sei denn, er sah ihren besorgten Blick – dann fing er an zu heulen. Und seine Mutter war nicht sicher, ob ein Großvater und kein Vater genug wäre.
    Sie wollte, dass ihr Junge genug hatte. Mindestens genug. Wenn nicht alles.
    Aber sie war nicht mehr mit seinem Vater zusammen, es war zu schwierig gewesen, so schwierig, ihn zu verlassen, darum konnte sie nicht zu ihm zurück. Sie konnte nicht. Es hätte nur allen wehgetan.
    Sein Vater war der Mann gewesen, mit dem sie monatelang, jahrelang gelebt und gearbeitet und gedacht hatte – nicht so lange, nicht allzu lange, aber doch Jahre, fünf Jahre – und sein Vater war außergewöhnlich, und seine Art außergewöhnlich zu sein war nicht immer gut. Sein Herz war sauber und heiß und richtig, aber andere Dinge waren nicht gut.
    Und fast sofort, nachdem sie den außergewöhnlichen Mann verlassen hatte, ließen sich die ersten Anzeichen ihres gemeinsamen Jungen nicht leugnen, und es wurden mehr, dazu das Gefühl, dass das Kind sich entschlüsselte, zusammensetzte, immer klarer und deutlicher wurde.
    Aber es hatte den Anschein gehabt, als gebe es keinen fairen oder schonenden oder immer guten Weg für die Mutter zu sagen, was sie sagen sollte.
    Du hast einen Sohn. Wir haben zusammen einen Sohn gemacht. Wir haben uns übertroffen.
    Aber komm ihn nicht ansehen. Besuch uns nicht. Tu dir nicht so weh.
    Tu uns nicht weh.
    Tu mir nicht weh.
    Tu ihm nicht weh.
    Nur beim ersten Mal, als sie den Jungen sah und auf den Arm nahm, ganz lebendig und denkend – und wer er sein würde, war schon scharf und klar in ihm zu sehen – und auch sein Vater steckte in ihm, sauber und heiß und richtig – da hätte sie anrufen können.
    Hätte sie auch.
    Aber sie war beschäftigt.
    Der Junge beschäftigte sie sehr. Man darf gar nicht darüber nachdenken.
    Er war ein Sommerkind, am 14. Juni geboren – am 14. Juni 1995 – und sein Opa steckte voller Geburtstagspläne, auch wenn seine Mutter ihn zu bremsen versuchte.
    Als der Junge ein Jahr wird, gibt es Kuchen und Ballons, die er gnädig als das ihm Zustehende entgegennimmt, zusammen mit den Schatten, die seine Großeltern mit den Händen an eine weiße Wand werfen – eine kleine Zauberei, Tiere und Abenteuer hervorbringen – die betrachtet er in tiefem Schweigen und schreit dann, als sie weg sind. Und sein Großvater führt einen eleganten Effekt vor, zu dem ein Schmetterling gehört und der das Kind langweilt, bis er den Schmetterling halten und daran lutschen darf. Er hat seine kleinen Freunde nicht eingeladen – sie sind noch keine richtigen Freunde, bloß zufällige Menschen seines Alters, die dumm und unattraktiv sind und allen die Zeit stehlen. Seine Mutter findet, das erste Jahr sollte man mit seinen eigenen Leuten
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