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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman
Autoren: Carl Hanser Verlag
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versteckt sich gern im Summen der Bienen, im Flattern der Heckenbraunellen und Zaunkönige, der flüchtigen Lebensformen. Seine Füße rennen mitten auf dem Weg, wo der kurzgeschnittene Rasen sich senkt, als würde er gebeugt, unter seinem besonderen Gewicht hingestreckt. Bäume greifen aus und beschatten ihn. Mit dem Grün über und unter sich könnte er in einem Tunnel laufen, in irgendein Geheimnis hineinschießen, es entschlüsseln. Und der Tunnel führt abwärts, schräg nach unten, bis er am Rand der Klippe zurückschreckt und sich zu einer plötzlichen Kurve biegt, dann über einen steilen Hang hin und her zieht, irgendwie geduckt weiterstürzt, sich so weit es geht vor drohenden Winden und dem Blick der strahlenden See verbirgt.
    Von hier an ist der Tunnel nicht mehr durchgehend: Gelegentlich springt der Junge im Freien, über gelbbraune nackte Felsen, springt neben Abbruchkanten und Lücken und dem breiten Gleißen des Meereslichts. Manchmal verschränken sich die Äste wieder über ihm, drücken feuchte Luft, Spinnweben, Brombeerranken auf ihn herab – sie berühren ihn wie Musik, sie streicheln, bleiben hängen, pieksen. In seinem Inneren lebt vor allem Musik, er hat den Eindruck, dass er davon erschauert und erglüht, so viele herrliche Einzelheiten: Namen und Liedzeilen, Begleittexte, Songtitel, Illustrationen, rätselhaft wichtige Anekdoten. An den besten Tagen ist er so erschüttert von der Musik, dass er hilflos lächeln muss.
    Nur einmal bleibt der Junge im Knick einer nackten Kurve stehen, geschüttelt von seinem eigenen Atem, beugt sich vor, um seine Knie zu berühren, starrt aufs heulende, wankend machende Blau des Wassers. Er spürt dessen Atem aufsteigen und ihn streifen, sieht sein weißes Nagen und Kratzen an den Felsen, und die Naht, wo es sich unter den Himmel schmiegt. Das Blau starrt zurück, schießt durch ihn hindurch und auf der anderen Seite wieder heraus. Der Junge spürt, dass er dem Blau egal ist, dass es nur ein schreckliches, hungriges Glitzern ist.
    Und dann greifen seine Absichten wieder nach ihm, drängen und schieben, das Gras unter seinen Füßen fällt steiler ab, stürzt in einen letzten Abhang, ein Anlass, die Kontrolle zu verlieren, ehe er die Kante erreicht: den Metallpfosten, das erste der befestigten Seile. Fast grinst er.
    Absteigen ist schwierig – er hat gelernt, dass hinaufklettern viel leichter ist. Hier kann er nicht sehen, wo seine Zehen hintreten und sich abstoßen, muss den schwingenden Körper beherrschen, ein Seil nach dem anderen, von Pfahl zu Pfahl fädeln sie sich durch die Kurven des Weges und schlängeln ihn nach unten. Er trägt sein eigenes Gewicht sicher, seine Hände sind geschickt an den dicken, steifen Strängen. Er mag die Anstrengung, den Schweiß, wünscht sich mehr davon, wünscht sich aufgerissene Hände und Blut, die Probe eines Sturzes.
    Unter ihm liegt der Pott: eine winzige Bucht hinter einer hohen, umschließenden Wand, der Boden mit einem braungrauen Steinchaos bedeckt. Der Junge macht seinen letzten Schwung, löst das Seil und lässt die Füße mit knirschendem Klacken zwischen Trümmern und kaltem Widerhall landen. Hier herrscht das Gefühl einer vorübergehenden Abwesenheit, einer Macht, die zurückkehren und überwältigen wird. Der Junge spürt, wie seine Schienbeine vor Aufregung kribbeln, und wünscht, er könne die Furcht richtig auskosten, an sie glauben und sich von ihren Möglichkeiten mitreißen lassen. Er nimmt die Stirnseiten der flacheren Felsbrocken als Trittsteine und hält auf einen Bogengang zu seiner Linken zu.
    Früher einmal, nimmt er an, muss der Pott wirklich ein Topf gewesen sein, ein runder kleiner Raum, geschützt vor den Gezeiten, doch die Beschaffenheit der Insel ist niemals verlässlich. Die ganze Insel hat sich in Durchgänge, Erdrutsche, Höhlen, Kamine zerrissen. Und vor langer Zeit haben Bergarbeiter ihr Werk getan: Er stellt sie sich vor, importierte Fremde mit von Kerzen beleuchteten Fähigkeiten, grimmig grabend zwischen Magnetit, Hämatit, Sphalerit, Bornit – der Junge hält die Reime unter der Zunge warm wie einen Zauberspruch. Gern flüstert er die musikalischen Komplikationen wie kristallines Pyrit oder Hornblendegneis . Er gehört zur Insel, weil er ihre Knochen beim Namen nennen kann. Doch sie ist unverzeihlich zart und zerbrechlich: Selbst die granitenen Landspitzen scheinen von einem schrecklichen, vorzeitlichen Aufprall zerschmettert. Sie wirken wie schreckensstarre, schwere Haufen,
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