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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild
Autoren: Stephen King
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begleitet.
Verschwinde von hier, sagte dieser tief verborgene Teil von
ihr plötzlich. Verschwinde auf der Stelle von hier, noch in dieser
Minute. Nimm dir nicht mal Zeit, dich zu kämmen. Geh einfach.
»Das ist lächerlich«, sagte sie und schaukelte schneller
denn je vor und zurück. Der Blutfleck auf dem Laken tanzte
vor ihren Augen. Von hier aus sah er wie der Punkt unter
einem Ausrufungszeichen aus. »Das ist lächerlich, wohin
sollte ich gehen?«
Überall hin, wo er nicht ist, meldete sich die Stimme wieder. Aber du mußt es sofort tun. Bevor…
Bevor was?
Das war einfach. Bevor sie wieder einschlief.
Ein anderer Teil ihres Verstands - der gewohnheitsmäßige,
zaghafte Teil - stellte plötzlich fest, daß sie diesen Gedanken
ernsthaft in Erwägung zog, und stimmte ein entsetztes Gezeter an. Ihr Heim verlassen, wo sie vierzehn Jahre gewohnt
hatte? Das Haus, wo sie alles mit einem Griff finden konnte?
Den Mann, der sie, wenn auch cholerisch und schnell mit
den Fäusten, stets gut versorgt hatte? Der Gedanke war
lächerlich. Sie mußte ihn vergessen, und zwar sofort.
Und das hätte sie wahrscheinlich auch getan, mit ziemlicher Sicherheit getan, wäre da nicht der Tropfen Blut auf dem
Laken gewesen. Der einzelne, dunkelrote Tropfen.
Dann schau eben nicht hin! rief der Teil ihres Verstands nervös, der sich für praktisch und vernünftig hielt. Um Himmels
willen, schau nicht hin, es wird dir nur Scherereien einhandeln!
Aber sie stellte fest, daß sie nicht mehr wegsehen konnte.
Ihre Augen blieben starr auf den Fleck fixiert, und sie schaukelte noch schneller. Ihre in weiße flache Turnschuhe gekleideten Füße trommelten einen immer schnelleren Rhythmus
auf dem Boden (das Kribbeln war inzwischen fast
ausschließlich in ihrem Kopf, schüttelte ihr Gehirn durch, heizte
sie auf), und sie dachte: Vierzehn Jahre. Vierzehn Jahre wollte er
mit mir reden-aus der Nähe. Die Fehlgeburt. Der Tennisschläger.
Drei Zähne, einen davon Hab ich geschluckt. Die gebrochene Rippe.
Die Schläge. Das Kneifen. Und natürlich die Bisse. Ziemlich viele
Bisse. Ziemlich viele…
Hör auf! es ist sinnlos, so was zu denken, weil du nicht fortgehen
kannst, er würde dir folgen und dich zurückbringen, er würde dich
finden, er ist Polizist, da gehört es zu seinen Aufgaben, Leute zu
finden, darin ist er gut…
    »Vierzehn Jahre«, murmelte sie, und jetzt dachte sie nicht
an die letzten vierzehn, sondern an die nächsten. Denn die
andere Stimme, die tiefere Stimme hatte recht. Vielleicht
tötete er sie nicht. Vielleicht nicht. Und wie würde sie sein,
wenn er nochmal vierzehn Jahre mit ihr redete - aus der
Nähe? Würde sie sich noch bücken können? Würde sie eine
Stunde täglich haben - oder auch nur fünfzehn Minuten -,
wenn sich ihre Nieren nicht wie heiße Steine in ihrem Rücken
anfühlen würden? Würde er sie möglicherweise so fest
schlagen, daß eine wichtige Verbindung abstarb, so daß sie
einen Arm oder ein Bein nicht mehr bewegen konnte oder
eine Gesichtshälfte von ihr schlaff und ausdruckslos herunterhing wie bei der armen Mrs. Diamond, die im Store 24
unten am Hügel arbeitete?
    Sie stand unvermittelt und so heftig auf, daß die Lehne
von Pus Stuhl gegen die Wand schlug. Sie blieb einen
Moment schwer atmend stehen, ohne den Blick von dem
kastanienfarbenen Fleck abzuwenden, dann ging sie zur Tür
ins Wohnzimmer.
    Was machst du da? kreischte Ms. Praktisch-Vernünftig in
ihrem Kopf - der Teil von ihr, der es in Kauf zu nehmen
schien, verstümmelt oder getötet zu werden, nur um weiterhin in den Genuß des Privilegs zu kommen, daß sie wußte, in
welcher Schublade die Teebeutel waren und wo unter der
Spüle sie die Putzlappen aufbewahrte. Wohin willst du denn
überhaupt…
    Sie brachte die Stimme zum Schweigen, obwohl sie bis zu
diesem Augenblick nicht gewußt hatte, daß sie das konnte.
Dann holte sie die Handtasche vom Tisch und ging durch
das Wohnzimmer zur Eingangstür. Plötzlich kam ihr der
Raum ziemlich groß vor, der Weg sehr weit.
    Ich muß das hier Schritt für Schritt angehen. Wenn ich nur
einen Schritt im voraus plane, wird mich der Mut verlassen.
Aber eigentlich glaubte sie nicht, daß das ein Problem sein
würde. Zunächst einmal hatte ihr Tun etwas Halluzinatorisches angenommen - ganz bestimmt konnte sie doch nicht
einfach aus einer Laune heraus ihrem Haus und ihrer Ehe
den Rücken kehren, oder? Es mußte ein Traum sein, richtig?
Und da war noch etwas: Nicht im voraus zu planen, das war
ihr in Fleisch und Blut
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