Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
zurückschnalzen lassen wie eine schlechte Gewohnheit, die man einfach nicht ablegen kann.
Ihr erster Gedanke ist, daß er die Polizei ruft. Was selbstverständlich lächerlich ist - er ist die Polizei.
»Ja, ein Notfall«, sagt er. »Das können Sie aber singen,
wunderbar, und sie ist obendrein schwanger.« Er horcht, läßt
die Schnur durch die Finger gleiten, und als er wieder
spricht, ist sein Ton gereizt. Die Andeutung von Zorn in seiner Stimme läßt ihre Angst wieder aufflackern und füllt
ihren Mund mit einem metallischen Geschmack. Wer würde
sich mit ihm anlegen, ihm widersprechen? Oh, wer könnte so
närrisch sein, das zu tun? Selbstverständlich nur jemand, der
ihn nicht kannte - der ihn nicht so kannte, wie sie ihn kannte.
»Selbstverständlich werde ich sie nicht bewegen, halten Sie
mich für einen Idioten?«
Ihre Finger gleiten unter ihr Kleid und am Schenkel hinauf
zum durchnäßten, heißen Baumwollstoff ihres Schlüpfers. Bitte, denkt sie. Wie oft ist ihr dieses Wort durch den Kopf
gegangen, seit er ihr das Buch aus den Händen gerissen hat?
Sie weiß es nicht, aber da ist es schon wieder. Bitte laß die Flüssigkeit an meinen Fingern klar sein. Bitte, lieber Gott. Bitte laß sie
klar sein.
Aber als sie die Hand unter dem Kleid hervorzieht, sind
ihre Fingerspitzen rot von Blut. Noch während sie sie
betrachtet, frißt sich ein monströser Krampf durch ihr Inneres wie das Blatt einer Säge. Sie muß die Zähne zusammenbeißen, um einen Schrei zu unterdrücken. Sie hat Verstand
genug, in diesem Haus nicht zu schreien.
»Vergessen Sie diesen Quatsch, kommen Sie einfach her!
Aber dalli!« Er knallt den Hörer auf die Gabel.
Sein Schatten tanzt an der Wand und schwillt an, und
plötzlich steht er unter dem Torbogen und sieht sie mit seinem geröteten, hübschen Gesicht an. Die Augen in diesem
Gesicht sind so ausdruckslos wie Glasscherben, die am Rand
einer Landstraße funkeln.
»Nun sieh dir das an«, sagt er, hebt kurz beide Hände und
läßt sie dann mit einem leisen Klatschen wieder an die Seite
sinken. »Sieh dir diese Schweinerei an.«
Sie streckt ihm die eigene Hand entgegen, zeigt ihm die
blutigen Fingerspitzen
- einen deutlicheren Vorwurf wagt
sie nicht.
»Ich weiß«, sagt er, als würde die Tatsache, daß er es weiß,
alles erklären und die ganze Angelegenheit in einen zusammenhängenden, rationalen Kontext bringen. Er wendet sich
ab und betrachtet starr das zerfetzte Taschenbuch. Er hebt
das Stück auf der Couch auf, dann bückt er sich und holt das
unter dem Beistelltisch hervor. Als er sic h aufrichtet, kann er
den Umschlag sehen, der eine Frau in weißer Bauernbluse
zeigt, die am Bug eines Schiffs steht. Ihr Haar weht dramatisch im Wind und entblößt die alabasterfarbenen Schultern.
Der Titel, Miserys Reise, ist mit roten Buchstaben geprägt.
»Das ist das Problem«, sagt er und fuchtelt mit den Überresten des Taschenbuchs vor ihr wie ein Mann mit einer
zusammengerollten Zeitung vor einem Welpen, der auf den
Boden gepinkelt hat. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, was
ich davon halte, daß du so einen Mist liest?«
An sich lautet die Antwort darauf: niemals. Sie weiß, sie
könnte hier genauso in der Ecke sitzen und eine Fehlgeburt
haben, wenn er nach Hause gekommen wäre und gesehen
hätte, wie sie die Nachrichten im Fernsehen anschaute oder
einen Knopf an einem seiner Hemden annähte, oder einfach
nur auf der Couch lag und ein Nickerchen machte. Es sind
schwere Zeiten für ihn, eine Frau namens Wendy Yarrow
macht ihm Ärger, und wenn Norman Ärger hat, müssen
andere es ausbaden. Wie oft habe ich dir schon gesagt, was ich
davon halte, daß du so einen Mist liest? hätte er unabhängig
davon gebrüllt, um was für einen Mist es sich handelte. Und
dann, kurz bevor er mit den Fäusten loslegte: Ich will mit dir
reden, Schatz. Aus der Nähe.
»Verstehst du nicht?« flüstert sie. »Ich verliere das Baby.«
Es ist unglaublich, aber er lächelt. »Du kannst wieder eins
bekommen«, sagt er. Als würde er ein Kind trösten, das seine
Eistüte hat fallen lassen. Dann trägt er das zerrissene Taschenbuch in die Küche, wo er es zweifellos in den Mülleimer werfen wird.
Du Dreckskerl, denkt sie, ohne zu wissen, daß sie es denkt.
Die Krämpfe setzen wieder ein, diesmal nicht nur einer, sondern viele, sie schwärmen in ihr aus wie gräßliche Insekten,
und sie streckt den Kopf tief in die Ecke und stöhnt. Du
Dreckskerl, wie ich dich hasse.
    Er kommt aus dem Durchgang und geht auf sie zu.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher