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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild
Autoren: Stephen King
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eingesetzt hat. Alt
genug, daß sie und ihre Mutter Diskussionen über Kleidung
und Nächte außer Haus und Nächte im Haus führen, und
darüber, was sie tun und lassen und mit wem sie sich wie
lange treffen darf. Die stürmische Zeit von Pamelas Jugend
hat noch nicht richtig angefangen, aber Rosie weiß, sie steht
bevor. Aber sie sieht ihr relativ gelassen entgegen, denn die
Wutanfälle haben aufgehört.
    Bills Haar ist fast grau geworden und wird schütter.
Das von Rosie ist noch braun. Sie trägt es schlicht, bis auf
die Schultern. Manchmal steckt sie es hoch, aber zu einem
Zopf flicht sie es nicht mehr.
Es ist Jahre her, seit sie das letzte Mal zum Picknick im Shoreland am State Highway 27 waren; Bill schien den Platz vergessen zu haben, als er seine Harley-Davidson verkaufte,
und die Harley hatte er verkauft, wie er sagte, »weil meine
Reflexe zu langsam werden, Rosie. Wenn ein Vergnügen zur
Gefahr wird, soll man damit aufhören.« Sie widerspricht die ser Einstellung nicht, hat aber den Eindruck, als hätte Bill
zusammen mit seiner Maschine eine Menge Erinnerungen
verkauft, und um die trauert sie. Es ist, als hätte ein großer
Teil seiner Jugend in den Satteltaschen gesteckt, und er hätte
vergessen, nachzusehen und sie herauszuholen, bevor der
nette junge Mann aus Evanston mit dem Motorrad davongefahren ist.
Sie fahren nicht mehr zum Picknick dorthin, aber einmal
im Jahr, immer im Frühling, macht sich Rosie allein auf den
Weg. Sie hat mit angesehen, wie der neue Baum im Schatten
des umgestürzten alten von einem Schößling zu einem Trieb,
und dann zu einer kräftigen Jungpflanze mit glattem, geradem Stamm und selbstbewußten Ästen herangewachsen ist.
Sie hat gesehen, wie er auf der Lichtung, wo jetzt keine jungen Füchse mehr herumtollen, Jahr für Jahr größer geworden ist. Sie sitzt stumm davor, manchmal eine Stunde lang,
und hat die Hände im Schoß gefaltet. Sie kommt nicht zum
Beten hierher, aber hier zu sein, hat etwas von einem Ritual,
von Pflichterfüllung, von der Erneuerung eines ungeschrie benen Vertrags, und scheint richtig zu sein. Und wenn der
Aufenthalt hier ihr hilft, keinem weh zu tun - Bill, Pammy,
Rhoda, Curt (um Rob Lefferts muß sie sich keine Sorgen
machen; in dem Jahr, als Pammy fünf wurde, starb er im
Schlaf an einem Herzanfall) -, dann ist die Zeit gut genützt.
Wie perfekt der Baum wächst! Seine jungen Zweige sind
schon dicht in schmale Blätter dunkelgrüner Färbung gekleidet, und in den vergangenen zwei Jahren hat sie tief in die sem Laub bunte Flecken gesehen
- Blüten, aus denen in späteren Jahren Früchte werden. Wenn jemand diese Lichtung
finden und von den Früchten essen würde, denkt Rosie,
wäre die Folge ganz sicher der Tod, und zwar ein schrecklicher Tod. Von Zeit zu Zeit macht sie sich deswegen Gedanken, aber so lange sie keine Spuren sieht, daß jemand hier
war, bekümmert es sie nicht sehr. Bis jetzt hat sie noch keine
einzige Bierdose, keine Zigarettenpackung und kein Kaugummipapier gefunden. Es genügt ihr, hierherzukommen,
die reinen, fleckenlosen Hände im Schoß zu falten, und den
Baum ihrer Wut mit seinen kräftigen dunkelroten Flecken zu
sehen, die, in späteren Jahren, zu den betäubend süßen
Früchten des Todes werden.
Manchmal, wenn sie vor dem kleinen Baum sitzt, singt sie. »Ich bin richtig Rosie«, singt sie, »und ich bin Rosie Richtig …das
glaubt ihr mir besser… ich bin ziemlich wichtig …«
Selbstverständlich ist sie nicht ziemlich wichtig, außer für
die Leute in ihrem Leben, auf die es ankommt, und nur die
zählen für sie. Alles kommt auf das Gleichgewicht an, wie
die Frau in dem Zat gesagt haben könnte. Sie hat den sicheren Hafen erreicht, und an diesen Vormittagen im Frühling,
wenn sie mit untergeschlagenen Beinen auf dieser überwucherten, stillen Lichtung in der Nähe des Sees sitzt, die sich
im Lauf der Jahre nicht verändert hat (insofern ähnelt die
Lichtung einem Bild
- der Art von abgedroschenem Gemälde, wie man sie beim Trödler oder in Pfandleihen findet),
empfindet sie manchmal eine so überwältigende Dankbarkeit, daß sie glaubt, das Herz müßte ihr zerspringen. Diese
Dankbarkeit bringt sie zum Singen. Sie muß singen. Sie hat
keine andere Wahl.
Und manchmal kommt die Füchsin - die inzwischen alt ist
und drahtige graue Strähnen in ihrem leuchtenden Schweif
hat - an den Rand der Lichtung, bleibt stehen und scheint
Rosie beim Singen zuzuhören. Wenn sie dort steht, vermittelt
der Ausdruck ihrer schwarzen Augen
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