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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild
Autoren: Stephen King
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dabei mit den bloßen Füßen im Sand
einsinkt, fragt sie sich, wie viele vergessene Träume sie hierher geführt haben, seit die Wutanfälle angefangen haben.
Selbstverständlich kann sie es unmöglich sagen, und eigentlich ist es auch nicht wichtig.
    Am oberen Ende des Pfads liegt die verwilderte Lichtung,
und auf der Lichtung der umgestürzte Baum - an den sie sich
endlich erinnert hat. Sie hat nie vergessen, was ihr in der Welt
des Bildes alles widerfahren ist, und sie sieht jetzt, ohne den
leisesten Anflug von Überraschung, daß dieser Baum und
der andere, der über den Weg zu Dorcas’ »Granatapfelbaum« gefallen war, vollkommen identisch sind.
    Sie kann das Erdloch der Füchse unter dem staubigen
Wurzelgeflecht am hinteren linken Ende des Baums sehen,
aber es ist verlassen und sieht alt aus. Sie geht trotzdem hin
und kniet nieder - sie ist sowieso nicht sicher, ob ihre zitternden Beine sie noch viel weiter getragen hätten. Sie klappt ihre
alte Handtasche auf und schüttet die Relikte ihres alten
Lebens auf den laubübersäten, mulchigen Boden. Zwischen
zusammengeknüllten Wäschelisten, seit Jahren verfallenen
Rezepten, unter einem Einkaufszettel, auf dem das Wort
SCHWEINECOTELETTS!
unterstrichen, in Großbuchstaben und mit einem Ausrufungszeichen versehen, steht (Schweinekoteletts waren
immer Normans Lieblingsgericht), findet sie das blaue Bündel mit den purpurroten Tropfen darauf.
    Sie zittert und fängt an zu weinen
- teilweise, weil die
Bruchstücke ihres alten, schlimmen Lebens sie so traurig
stimmen, und teilweise, weil sie solche Angst hat, daß ihr
neues in Gefahr ist -, und sie gräbt am Fuß des umgestürzten
Baums^iin Loch in den Boden. Als es etwa zwanzig Zentime—ter tief ist, legt sie das Bündel daneben und klappt es auf. Der
Samenkern ist noch da, umgeben vom goldenen Reif des
Ringes ihres ersten Mannes.
    Sie legt den Kern in das Loch (der Kern hat seine Zauberkraft nicht eingebüßt; Rosies Finger werden in dem Augenblick taub, als sie ihn berührt) und stülpt den Ring wieder
darüber.
    »Bitte«, sagt sie, weiß aber nicht, ob sie betet, und wenn ja,
an wen das Gebet gerichtet ist. Wie dem auch sei, nach einer
Weile wird sie erhört. Ein kurzes, schneidendes Bellen ertönt.
Es liegt kein Mitleid darin, kein Mitgefühl, keine Barmherzigkeit. Es ist unschuldig. Komm mir nicht dumm, sagt es.
    Rosie schaut auf und sieht die Füchsin auf der anderen
Seite der Lichtung, wo das Tier reglos steht und sie ansieht.
Es hat den Schwanz aufgestellt. Er leuchtet wie eine Fackel
vor dem grauen, verhangenen Himmel.
    »Bitte«, wiederholt sie mit leiser, gequälter Stimme. »Bitte
laß mich nicht zu dem werden, wovor ich Angst habe.
Bitte … hilf mir bitte, mich zu beherrschen und den Baum
nicht zu vergessen.«
    Nichts erfolgt, das sie als Antwort interpretieren könnte,
nicht einmal ein weiteres ungeduldiges Bellen. Die Füchsin
steht nur da. Das Tier läßt die Zunge heraushängen und
hechelt. Rosie hat den Eindruck, als würde es grinsen.
    Sie betrachtet noch einmal den Ring um den Kern herum,
dann bedeckt sie beides mit der duftenden, mulchigen Erde.
Einen für meine Herrin, denkt sie, einen für meine Dame, und
einen für das kleine Mädchen am Ende der Straße. Einen für Rosie.
Sie weicht zum Rand der Lichtung zurück, zu dem Weg,
der sie zum Ufer zurückbringen wird. Als sie dort ankommt,
trottet die Füchsin rasch zu dem umgestürzten Baum,
schnuppert an der Stelle, wo Rosie Kern und Ring vergraben
hat, und legt sich darauf. Sie hechelt und grinst immer noch
(Rosie ist jetzt ganz sicher, daß sie grinst), und sie sieht Rosie
immer noch mit ihren schwarzen Augen an. Die Jungen sind
fort, sagen diese Augen, und der Rüde, der sie mir gemacht hat,
ist auch fort. Aber ich, Rosie … ich harre aus. Und wenn es sein
muß, vergelte ich.
Rosie sucht nach Wahnsinn oder Besonnenheit in diesen
Augen … und sieht beides.
Dann legt die Füchsin die hübsche Schnauze auf den hübschen Schweif, schließt die Augen und scheint zu schlafen.
»Bitte«, flüstert Rosie zum letztenmal, und dann geht sie.
Und als sie auf dem Skyway fährt, zurück zu ihrem Leben,
wie sie hofft, wirft sie das letzte Andenken an ihr altes Leben
- die Handtasche, die sie aus Ägypten mitgebracht hat - zum
Fenster hinaus in die Coori Bay.
12 Die Wutanfälle haben aufgehört.
    Pamela, das Mädchen, ist noch längst nicht erwachsen,
aber alt genug, daß sie eigene Freunde hat, daß ihre Brüste
knospen, daß ihre monatliche Periode
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