Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Dorcas ihr sagte, daß sie die Früchte nicht
essen, nicht einmal die Hand in den Mund nehmen sollte,
mit denen sie die Kerne angefaßt hatte. Granatapfelbaum,
hatte sie gesagt, aber Rosie glaubte nicht, daß es einer
war.
Sie klappte das kleine Bündel auf und betrachtete die
Samen. Das Herz raste ihr wie ein Rennpferd in der Brust.
Darfst du nich behalten, dachte sie. Darfst du nich, darfst du
nich.
Rosie ließ den Ring ihres verstorbenen Mannes neben der
Lampe liegen, jedenfalls vorerst, stand auf und ging wieder
ins Bad, wobei sie das aufgeschlagene Bündel in der Handfläche hielt. Sie wußte nicht, wie lange Bill fort war; sie hatte
ihr Zeitgefühl verloren, aber es mußte schon eine ganze
Weile sein.
Bitte, dachte sie, laß die Schlange beim Bäcker lang sein.
Sie klappte die Klobrille hoch, kniete sich hin und nahm
den ersten Kern von dem Stoffetzen. Sie hatte sich überlegt,
daß diese Welt den Kernen vielleicht ihre Zauberkraft
genommen haben könnte, aber ihre Fingerspitzen wurden
sofort taub, und da wußte sie, daß es sich nicht so verhielt. Es
war nicht, als wären ihre Finger vor Kälte taub geworden;
mehr, als hätten die Kerne direkt eine seltsame Form von
Amnesie in ihr Fleisch übertragen. Dennoch hielt sie ihn
noch einen Moment fest und sah ihn starr an.
»Einen für die Füchsin«, sagte sie und warf ihn in die
Kloschüssel. Das Wasser erblühte sofort in einer häßlichen
purpurroten Farbe. Es sah wie Wasser aus, in dem sich
jemand die Pulsadern oder die Kehle aufgeschlitzt hatte.
Aber der Geruch, der zu ihr aufstieg, war nicht der von Blut;
es war der bittere, leicht metallische Geruch des Bachs hinter
dem Tempel des Stiers. Er war so stark, daß ihr Tränen in die
Augen traten.
Sie nahm den zweiten Kern von dem Fetzen und hielt ihn
vor die Augen.
»Einen für die Irre«, sagte sie und warf ihn ins Klo. Die
Farbe wurde dunkler - nicht mehr die Farbe von Blut, sondem von Gerinnseln -, und der Geruch wurde so intensiv,
daß ihr Tränen an den Wangen hinabliefen. Ihre Augen
waren so rot, als würde sie bis zu den Ellbogen in gehackten
Zwiebeln stecken.
Sie nahm den letzten Kern von dem Tuch und hielt ihn vor
die Augen.
»Und einen für mich«, dachte sie. »Einen für Rosie.«
Aber als sie versuchte, den ins Klo zu werfen, gaben ihre
Finger ihn nicht frei. Sie versuchte es noch einmal, mit demselben Ergebnis. Statt dessen ertönte die Stimme der Irren
in Rosies Kopf, und sie klang überzeugend vernünftig: Vergiß nicht den Baum. Vergiß nicht den Baum, kleine Rosie. Vergiß
nicht…
»Den Baum«, murmelte Rosie. »Vergiß nicht den Baum, ja,
das hab ich verstanden, aber was für einen Baum? Und was
soll ich tun? Was, in Gottes Namen, soll ich tun?«
Ich weiß nicht, antwortete Ms. Praktisch-Vernünftig, aber
was du auch tust, du solltest es schnell tun. Bill könnte jeden
Moment zurückkommen. Jeden Augenblick.
Sie spülte und sah zu, wie das purpurrote Wasser von kla rem verdrängt wurde. Dann ging sie zum Bett zurück, setzte
sich darauf und starrte den letzten Kern an, der auf dem
Stück Baumwollstoff lag. Von dem Kern sah sie zu Normans
Ring. Dann sah sie wieder zu dem Kern zurück.
Warum kann ich das verdammte Ding nicht wegwerfen? fragte
sie sich. Vergiß den gottverdammten Baum, sag mir nur, warum,
in Gottes Namen, ich diesen letzten Kern nicht wegwerfen und es
hinter mich bringen kann?
Sie bekam keine Antwort. Statt dessen hörte sie das aufgeregte Knattern und Blubbern eines näherkommenden
Motorrads durch das offene Fenster hereindringen. Sie
kannte den Klang von Bills Harley schon. Rasch schlug
Rosie, ohne weitere Fragen an sich zu richten, den Ring
zusammen mit dem Kern in den weichen blauen Stoff ein.
Dann legte sie den Fetzen wieder zusammen, lief zum
Schreibtisch und nahm ihre Handtasche. Sie war abgeschabt
und mitgenommen, diese Handtasche, bedeutete ihr aber
sehr viel
- sie hatte sie in jenem Frühjahr aus Ägypten mitgebracht. Rosie klappte die Tasche auf, legte das kleine blaue
Bündel hinein und wühlte es bis ganz nach unten, wo es
noch sicherer aufgehoben wäre als das Keramikfläschchen
im Medizinschrank. Als das vollbracht war, ging sie ans
offene Fenster und atmete die frische Luft in vollen Zügen
ein.
Als Bill mit einer dicken Sonntagszeitung und einer ungeheuren Menge Brötchen in einer Papiertüte hereinkam,
drehte Rosie sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihm um.
»Wo warst du so lange?« fragte sie und dachte bei sich: Was
bist du dochfilr eine Füchsin,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher