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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild
Autoren: Stephen King
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versuchte, sich zu erinnern,
was es sein könnte. Nach einigen Augenblicken fiel es ihr
ein. Der kleine, rosa Klecks war ihr Pullover. Der schwarze
Klecks daneben war die Jacke, die Bill ihr an jenem Tag für
den Motorradausflug auf der Route 27 geliehen hatte. Der
Pullover bedeutete ihr nichts; er war nur ein billiges Kunstfaserdings gewesen, aber das mit der Jacke tat ihr leid. Sie
war nicht neu gewesen, aber sie hatte noch einige gute Jahre
vor sich. Außerdem gab sie den Leuten gern zurück, was sie
ihr geliehen hatten.
    Selbst Normans BankCard hatte sie nur dieses eine Mal
benutzt.
Sie betrachtete das Bild, dann seufzte sie. Es hatte keinen
Sinn, es zu behalten; bald würde sie aus dem kleinen Zimmer
ausziehen, das Anna ihr besorgt hatte, und sie wollte nicht
mehr als unbedingt notwendig aus der Vergangenheit mitnehmen. Sie vermutete, daß sie den Teil davon nicht loswerden konnte, der wie Kugelsplitter in ihrem Kopf steckte,
aber…
Vergiß nicht den Baum, Rosie, sagte eine Stimme, und diesmal hörte sie sich wie Annas Stimme an - Anna, die ihr
geholfen hatte, als sie Hilfe brauchte, als sie sich an niemand
wenden konnte; Anna, um die sie nicht trauern konnte, wie
sie gewollt hatte … wegen der reizenden Pam mit ihren hübschen blauen Augen, die stets auf der Suche nach »jemand
Interessantem« waren, hatte sie ganze Sturzbäche geweint.
Aber jetzt verspürte sie einen Anflug von Traurigkeit, bei
dem ihre Lippen bebten und ihre Nase kitzelte.
»Anna, es tut mir leid«, sagte sie.
Vergiß es. Diese trockene und leicht arrogante Stimme. Du
hast Norman nicht gemacht, und du mußt keine Verantwortung
für ihn übernehmen. Du bist Rosie McClendon, nicht TyphusMary, und das solltest du bedenken, wenn die Stürme der Schwermut dich mitzureißen drohen. Aber du darfst nicht vergessen
»Doch, das darf ich«, sagte sie und klappte das Bild
zusammen, als würde sie mit Nachdruck ein Buch zuschlagen. Das alte Holz, auf das die Leinwand gespannt war,
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brach entzwei. Die Leinwand selbst riß nicht, sondern explodierte förmlich zu Streifen, die wie Fetzen herunterhingen.
Die Farbe auf diesen Fetzen war trüb und bedeutungslos.
»Doch, das darf ich. Ich darf alles vergessen, wenn ich will,
und ich will.«
    Wer die Vergangenheit vergißt
»Scheiß auf die Vergangenheit!« schrie Rosie.
Ich vergelte, antwortete eine Stimme. Sie flüsterte; sie
    schmeichelte. Sie warnte.
»Ich hör dir gar nicht zu«, sagte Rosie. Sie schob die
Klappe des Verbrennungsschachts auf, spürte die Hitze, roch
Ruß. »Ich höre dir nicht zu, ich will nichts mehr hören, es ist
vorbei.«
Sie schob das zerrissene, zusammengeklappte Bild durch
die Klappe wie einen Brief, der für jemand in der Hölle
bestimmt ist, dann stellte sie sich auf Zehenspitzen und sah
zu, wie es weit unten in die Flammen fiel.
Epilog
     
Die Fuchs-Frau
     
1
    Im Oktober besucht Bill wieder mit ihr das Pickrückgelände
Shoreland. Diesmal fahren sie mit dem Auto; es ist ein schöner Herbsttag, aber trotzdem zu kalt für das Motorrad. Als
sie dort sind, das Picknick vor ihnen ausgebreitet ist und der
Wald um sie herum in herbstlichen Farben erstrahlt, stellt er
ihr die Frage, die ihm, wie sie weiß, schon eine Weile auf
dem
Herzen liegt.
    »Ja«, sagt sie. »Sobald die Scheidung rechtskräftig geworden ist.«
Er umarmt sie, küßt sie, und als sie die Arme um seinen
Hals legt und die Augen schließt, hört sie tief im Inneren
ihres Kopfes die Stimme von Rose Madder: Alles hängt nun
vom Gleichgewicht ab … und wenn du den Baum nicht vergißt,
wird es sowieso keine Rolle spielen.
Aber was für einen Baum?
Den Baum des Lebens?
Den Baum des Todes?
Den Baum des Wissens?
Den Baum der Erkenntnis?
Rosie erschauert und umarmt ihren zukünftigen Ehemann, und als er die Hand auf ihre linke Brust legt, staunt er,
wie heftig ihr Herz darunter klopft.
2
    Sie heiraten standesamtlich an einem Tag, der genau zwischen Thanksgiving und Weihnachten liegt, zehn Tage, nachdem Rosies Scheidung von Norman Daniels rechtskräftig
wird. In ihrer ersten Nacht als Rosie Steiner wird sie durch
die Schreie ihres Mannes geweckt.
    »Ich kann sie nicht ansehen!« schreit er im Schlaf. »Ihr ist es
egal, wen sie tötet! Ihr ist es egal, wen sie tötet! Oh, bitte, kann niemand dafür sorgen, daß er aufhört zu SCHREIEN?« Und dann,
mit leiser, ersterbender Stimme: »Was hast du da im Mund?
Was sind das für Fäden?«
    Sie befinden sich in einem Hotel in New York, ein Zwischenhalt auf dem Weg nach St.
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