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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild
Autoren: Stephen King
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geschwollene Nase konnte
man nicht mit einer Sonnenbrille verbergen wie ein blaues
Auge.
    Dann hatte er zu Ende gegessen - gebratener Barsch und
neue Röstkartoffeln.
Es gab keine nennenswerte Schwellung, wie ihr ein Blick
heute morgen in den Spiegel verraten hatte (er selbst hatte sie
schon mit einem prüfenden Blick betrachtet und zufrieden
genickt, bevor er eine Tasse Kaffee getrunken hatte und zur
Arbeit gegangen war), und die Blutung hatte nach fünfzehn
Minuten mit dem Eisbeutel aufgehört… hatte sie jedenfalls
geglaubt. Aber irgendwann im Lauf der Nacht, während sie
schlief, war ihr ein verräterischer Tropfen Blut aus der Nase
gelaufen und hatte diesen Fleck hinterlassen, was bedeutete,
sie mußte trotz ihrer Rückenschmerzen das Bett abziehen
und neu machen. In letzter Zeit hatte sie immer Rückenschmerzen; selbst wenn sie sich kaum bückte und nur leichte
Sachen hob, hatte sie Schmerzen. Ihr Rücken war eines seiner
liebsten Ziele. Im Gegensatz zu dem, was er »Schläge ins
Gesicht« nannte, war es sicher, jemanden in den Rücken zu
schlagen… das heißt, wenn die fragliche Person ihren Mund
halten konnte. Norman bearbeitete ihre Nieren seit vierzehn
Jahren, und die Blutspuren, die sie immer häufiger in ihrem
Urin fand, überraschten oder beunruhigten sie längst nicht
mehr. Es war nur eine von vielen unangenehmen Begleiterscheinungen der Ehe, und wahrscheinlich gab es Millionen
Frauen, denen es noch schlechter ging. Tausende allein in
dieser Stadt. So hatte sie es jedenfalls immer gesehen, bis
jetzt.
Sie betrachtete den Blutfleck, spürte ungewohnten Groll in
ihrem Kopf pochen, und spürte noch etwas, ein Kribbeln wie
die Stiche winziger Nadeln, aber sie wußte nicht, daß es sich
so anfühlte, wenn man endlich aufwachte.
Auf ihrer Seite des Betts stand ein kleiner Wiener Schaukelstuhl, den sie, ohne daß sie den Grund erklären konnte,
immer als Pus Stuhl betrachtet hatte. Dorthin wich sie nun
zurück und setzte sich, ohne den kleinen Blutfleck aus den
Augen zu lassen, der auf dem weißen Laken prangte. Sie saß
fast fünf Minuten in Pus Stuhl, und dann zuckte sie zusammen, als eine Stimme in dem Zimmer ertönte, weil sie
anfangs gar nicht bemerkte, daß es ihre eigene war.
»Wenn es so weitergeht, wird er mich umbringen«, sagte
sie, und als sie ihren ersten Schrecken überwunden hatte,
nahm sie an, daß sie zu dem Blutstropfen sprach - dem kleinen Teil von ihr, der schon tot, der aus ihrer Nase gelaufen
und auf dem Laken gestorben war.
Die Antwort darauf erfolgte nur in ihrem Kopf, und sie
war unendlich viel schrecklicher als die Möglichkeit, die sie
laut ausgesprochen hatte.
Vielleicht auch nicht. Hast du daran schon mal gedacht? Vielleicht auch nicht.
3
    Sie hatte nicht daran gedacht. Der Gedanke, daß er sie eines
Tages zu fest oder an der falschen Stelle schlagen würde, war
ihr oft durch den Kopf gegangen (aber sie hatte ihn bis heute
nie laut ausgesprochen, nicht einmal zu sich selbst), jedoch
nie die Möglichkeit, daß sie überleben könnte …
    Das Kribbeln in ihren Muskeln und Gelenken wurde stärker. Normalerweise saß sie nur mit im Schoß gefalteten Händen auf Pus Stuhl und sah über das Bett und durch die Badezimmertür ihr Bild im Spiegel, aber heute morgen fing sie an
zu schaukeln und bewegte den Stuhl mit kurzen, ruckartigen
Bewegungen vor und zurück. Sie mußte schaukeln. Das
summende, kribbelnde Gefühl in ihren Muskeln verlangte, daß sie schaukelte. Um nichts auf der Welt wollte sie ihr eigenes Spiegelbild sehen, mochte ihre Nase auch kaum geschwollen sein.
    Komm hier rüber, Süße, ich will mit dir reden - aus der Nähe. Vierzehn Jahre lang. Hundertachtundsechzig Monate,
angefangen damit, daß er sie in ihrer Höchzeitsnacht an den
Haaren gezogen und in die Schulter gebissen hatte, weil sie
eine Tür zugeschlagen hatte. Eine Fehlgeburt. Ein durchstochener Lungenflügel. Das Schreckliche, das er ihr mit dem
Tennisschläger angetan hatte. Die alten Narben an den Stellen ihres Körpers, die von der Kleidung verborgen wurden.
Größtenteils Bißspuren. Norman biß für sein Leben gem.
Zuerst hatte sie sich einzureden versucht, daß es Liebkosungen waren. Seltsamer Gedanke, daß sie jemals so jung gewesen war, aber sie mußte es wohl gewesen sein.
Komm hier rüber, ich will mit dir reden - aus der Nähe.
Plötzlich konnte sie das Kribbeln identifizieren, das mittlerweile ihren ganzen Körper ergriffen hatte. Sie verspürte
Zorn, Wut, und diese Erkenntnis war von Staunen
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