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Das Babylon-Virus

Das Babylon-Virus

Titel: Das Babylon-Virus
Autoren: Stephan M. Rother
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Er wusste es. Er spürte es. Auf die Kleinigkeiten musste er Acht geben, und mit tödlicher Sicherheit hatte er ein um das andere Mal über die eine entscheidende Kleinigkeit hinweggelesen bei der Lektüre der eintausendfünfhunderteinundzwanzig babylonischen Buchstaben.
    Wie sollte er vorankommen, wenn er nicht wusste, wo er ansetzen sollte? Dieser Code war wie eine Packung Käse aus
dem Supermarkt! Durch die transparente Hülle drang ein verführerischer Duft, doch was fehlte, war die Markierung an der Aufreißlasche!
    Sein Magen rumorte. Zweimal war er zwischendurch an der Espressomaschine gewesen, und irgendwann gegen vier hatte ihm einer der Restauratoren etwas zu essen gebracht, an das er sich jetzt schon nicht mehr erinnern konnte. Sein Bauch war voll und leer zugleich, und in seinem Hirn sah es nicht anders aus. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
    Noch einmal versuchte er, den Professor zu erreichen, probierte jede ihm bekannte Nummer, doch das Ergebnis war dasselbe wie am Morgen und am Nachmittag. Und auf seine Mail war auch keine Antwort gekommen. Stattdessen hatten sich die Sizilianer gemeldet, und die Reaktion sah ganz wie erwartet aus: Hauptsache blättern. Wahrscheinlich hatte Gianna heute sowieso schon mit der Arbeit angefangen.
    Amadeo fuhr den Rechner runter und schaltete die Schreibtischlampe aus. Eigentlich war dies genau die Zeit des Tages, zu der er erst so richtig zur Hochform auflief: wenn die angestellten Restauratoren gegangen waren und es still wurde in der officina . Das war der Augenblick, auf den er sich den ganzen Tag freute. Dann konnte er mit einer Tasse caffè durch den menschenleeren Arbeitsraum schlendern, einen Blick auf die laufenden Projekte werfen, mit den Fingern über die Codices streichen und sich für Momente an das Gefühl erinnern, wie es gewesen war, selbst mit diesen Kostbarkeiten arbeiten zu dürfen.
    Vielleicht würde ihm das ja auch heute helfen. Vielleicht kam der entscheidende Geistesblitz, wenn er Handschriften betrachtete, die noch um so vieles älter waren als Einsteins Text - wenn auch nicht älter als die ferne Geschichte, von der er berichtete.

    Nein, dachte Amadeo, noch besser: Er würde einen langen Spaziergang machen durch das nächtliche Rom. Sich ablenken, er musste sich ablenken, bewusst an etwas anderes denken als an Einstein, an Babylon und den Professor. Warum nur ging niemand ans Telefon in Weimar? Was, wenn Helmbrecht schon im Krankenhaus lag? Wenn er ernsthaft krank war, gehörte er da auch hin, aber was war mit seiner Frau? Wenn es nun tatsächlich die Grippe war? Wenn beide Helmbrechts krank waren?
    Wir haben keine Zeit mehr. Sie müssen den Schlüssel finden.
    Amadeo öffnete die Tür zur Werkstatt.
    Stocksteif blieb er stehen. Eine flüchtige Bewegung in der hintersten Reihe der Schreibtische. Es war Viertel nach acht. Kein Mensch in der officina machte ungefragt Überstunden, von ihm selbst einmal abgesehen, und die Reinemachefrau kam erst morgens um sechs oder sieben.
    Er hielt den Atem an, lauschte.
    Gegen seinen Willen musste er an jenen Abend vor mehr als einem Jahr denken, als er zu später Stunde noch einmal in die officina zurückgekehrt war und Niccolosi - Fabios Vater - auf der Toilette gefunden hatte, blutüberströmt, sterbend, die Werkstatt selbst ein Chaos, nachdem die Schergen des Kardinalstaatssekretärs in den Räumen gewütet hatten.
    Heute war es völlig anders als damals. Alles war wie immer. Das trotzdem vorhandene Chaos war jene Art von Chaos, die nach einem jeden Arbeitstag zurückblieb. Auf Beppo Farneses Schreibtisch lag ein angebissener Apfel, und der dicke Luigi hatte seine Schubladen so schlampig zugemacht, dass der Restaurator schon von der Tür aus ein Heftchen mit leicht bekleideten Damen erkennen konnte. Ja, alles war wie immer zu dieser Tageszeit, wenn Amadeo die menschenleere Werkstatt betrat.

    Alles bis auf ein unterdrücktes Rascheln, das sich wiederholte, während er in den Raum horchte, der hätte leer sein müssen.
    Amadeo war kein Feigling. Er war einfach ein Mann mit Fantasie, und das, was er vor einem Jahr hier in der officina erlebt hatte, war noch ein ganzes Stück über die grauenerregendsten seiner Fantasien hinausgegangen.
    Auf Zehenspitzen trat er ein Stück in den Raum, zögerte. Mit zehn Schritten konnte er am Aufzug sein. Dazwischen war nur noch die Panzerglastür, zu der er den Schlüssel besaß. Wenn er da einmal durch war, hinter sich absperren konnte … Ja, wenn .
    Die Frage war,
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