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Alle Zeit - Roman

Alle Zeit - Roman

Titel: Alle Zeit - Roman
Autoren: Kathrin Gerlof
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    Julis Bauch ist so dick, dass sie die Welt zu ihren Füßen nicht mehr sehen kann.
    Noch zwei Tage, wenn wir richtig gerechnet haben, denkt sie. Ihre Füße schlurfen Spuren in den Schnee.
    Wie ein Schneepflug, denkt sie, oder zwei extrabreite Langlaufski. Juli schätzt die Entfernung zur nächsten Parkbank.
    Zweitausend Kilometer, murmelt sie und macht sich auf den Weg.
    Auf der Bank sitzt eine vermummte Gestalt. Hat es sich auf einer alten Wolldecke bequem gemacht und guckt in die Luft. Juli
     lässt sich stöhnend neben ihr nieder. Die vermummte Gestalt hüpft dabei leicht nach oben, so schwer sind Bauch und Frau.
    Tag, sagt Juli und erhascht einen Blick in zwei blassblaue Augen. Sie zieht ihre dicken Handschuhe aus und bläst einen Marsch
     auf zehn kalten Fingerspitzen. Die Gestalt summt ein Weihnachtslied vor sich hin, eins von klingenden Glöckchen und lasst
     mich ein ihr Kinder. Juli lächelt und pustet den Takt dazu.
    Sie sollten nicht so viel essen, meine Liebe, sagt die Gestalt und rückt näher ran.
    Ich erwarte ein Kind.
    Oh, sagt die Vermummte und guckt wieder in die Luft. Ein Kind ist vorhin vorbeigekommen. Sah aus wie ein Hase, rosa Ohren
     aus Wolle. Wie heißen die Dinger, die man auf den Kopf setzt?
    Mützen, sagt Juli, oder Hüte.
    Mützen, murmelt die Gestalt und kaut ein bisschen auf dem Wort rum. Mützen. Hießen die früher auch so?
    Ich glaube schon.
    Dann muss ich das wohl vergessen haben. Ich lese jeden Tag Zeitung, meine Liebe, aber mein Kopf ist ein Sieb. Ich kann die
     Zeitung dreimal lesen. Sie ist immer neu. Das spart Geld. Juli lächelt und wappnet sich für eine alte Geschichte.
    Man hat jetzt Kopftücher erfunden, meine Liebe, die nicht brennen. Das habe ich mir gemerkt, weil es in der Zeitung stand.
     Mit den Kopftüchern können sich Frauen in Chemielaboren verkleiden. Sie haben es selbst so gewollt. Dass es nichtbrennbare
     Kopftücher gibt. Und sie glauben an etwas, von dem wir nichts ahnen. Wissen Sie, wie viele Dinge in dem Wort Frauen verborgen
     sind? Auen, rau und au. Ich übe Worte finden, weil mir so viele verlorengehen. Es ist schwer zu glauben, dass Frauen nichtbrennbare
     Kopftücher haben wollen.
    Ich bin alt, meine Liebe. Mir gehen die Begriffe verloren. Was ich sage, verschwindet oft für immer aus meinem Kopf. Ich leere
     mich. Aus. Das mit den Kopftüchern habe ich behalten. Aber es hängt kein Gedanke daran. Nur eine Erinnerung, die noch nicht
     verlorengegangen ist.
    Eine Erinnerung, die noch nicht verlorengegangen ist, denkt Juli. Das hat sie aber traurig gesagt.
    Bleiben Sie ruhig hier sitzen, junge Frau. Und essen Sie nicht mehr so viel. Es ist meine Bank. Ich habe sie besetzt, um auszusagen.
     Aus zu sagen. Alles, was ich sage, liegt dort im See. Wenn ich jetzt »Mondaufgang« ausspreche, werden Sie mich wahrscheinlich
     nie wieder fragen können, wie man das nennt. Das Wort hat sich weggeflüchtet. Weg, Weeeg. Die Unterschiede sind auch nicht
     mehr erkennbar. Ich bin zu alt geworden. Ich kann die Worte nicht mehrhalten. Vor einigen Tagen hat mich ein Polizist gefragt, wie ich heiße. Es hat ihn gestört, mich hier sitzen zu sehen. Im
     Schnee. Ich habe ihm meinen Namen gesagt. Seitdem ist er verschwunden. Sie können mich also nennen, wie Sie wollen. Geben
     Sie mir einen Namen, irgendeinen, den ich weitersagen und vergessen kann. Das Schlimmste ist nicht, dass die Welt verschwindet.
     Wir werden viel zu alt. Das ist schlimm. Hören Sie. Wir können nur noch mit den lahmen Flügeln schlagen. Und währenddessen
     stirbt unser Hirn. Ich werde auf dieser Bank sitzen bleiben. Bis der See alle meine Worte wieder hergibt. Irgendwo da unten
     ist mein Name. Und ohne den gehe ich nicht nach Haus.
    Juli hört dem langen Vortrag zu und rauft sich die grünen Haare. Sie ist zu schwer und zu müde, um der alten Frau einen Namen
     aus dem See zu fischen. Vielleicht später einmal.
    Für diesen einen Moment fühlt sie sich verantwortlich und schlingt der alten Frau den Schal ein paar Mal um den Hals. Ein
     kurzer Augenblick der Fürsorge ist das, der schnell vorbeigeht. Das mit den nichtbrennbaren Kopftüchern kommt ihr bekannt
     vor. Und die alte Frau auch. Ein bisschen. Vielleicht. Deren blassblaue Augen haben sich in weiter Ferne ein Ziel gesucht.
     Juli steht auf und geht. Der Trost war nur von kurzer Dauer.

 
    Sie stellt das Schachbrett auf den Tisch. Es ist ihr Schachbrett, ihr Tisch und ihr Zimmer. Ein schwarzer Bauer fehlt. Sie
     ersetzt ihn durch einen
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