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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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gestorben. Sie haben meine Mutter in eine Stadt gesteckt, ohne ihr Lebensmittelmarken zu geben, und sie ist verhungert.« Er sprach ganz langsam, und sein Blick wanderte von den Bergen zu dem Boden unter seinen Füßen. »Sie haben gesagt, es würde für unsere Kinder nur in der Klinik ärztliche Versorgung geben. Also habe ich meine Tochter dorthin gebracht, als sie Fieber bekam, aber man sagte mir, die Medizin sei in erster Linie für die kranken chinesischen Kinder bestimmt, und so ist sie gestorben. Dann haben wir einen Jungen gefunden, und er hatte niemanden, und wir hatten niemanden, und so haben wir ihn als unseren Sohn aufgenommen.« Eine Träne glitt über seine Wange.
    »Wir wollten mit unserem Sohn doch nur in Frieden leben«, sagte er, und seine Stimme erhob sich kaum über das Geräusch des Windes. »Aber unser alter Priester hat immer gesagt, es sei eine Sünde, etwas zu sehr zu wollen.« Er schaute mit leerer und trostloser Miene zu dem anderen Reiter. »Es hieß, ihr würdet kommen, um die Kinder zu retten.«
    Bei diesen Worten lief ein Schauder über Shans Rücken. Er sah Lokesh an, der sogar noch tiefer ergriffen zu sein schien.
    »Wir sind wegen einer Frau namens Lau hier«, erwiderte Shan sanft.
    »Nein«, sagte der Nomade mit beunruhigender Gewißheit. »Es ist wegen der Kinder, damit sie nicht mehr alle sterben müssen.«
    Auf dem Weg unter ihnen, etwa hundert Meter vor dem großen Felsen, stolperte das zweite Pferd heran und blieb dann stehen. Sein Reiter, der in eine dicke Filzdecke gewickelt war, sackte im Sattel zusammen und fiel wie in Zeitlupe zu Boden.
    Der Reiter stieß ein Geräusch aus, das mehr als ein Stöhnen oder ein Angstschrei war. Es klang wie der Ausdruck tiefsten animalischen Leidens.
    Shan lief los. Springend und strauchelnd eilte er den Hang hinab. Zweimal stürzte er dabei zwischen den Felsen schmerzhaft auf die Knie und landete schließlich auf allen vieren im dürren Gras. Als er aufstand, blickte er sich um. Keiner der anderen war ihm gefolgt.
    Das erschöpfte Pferd stand zitternd da, seine mit blutigem Schaum verschmierte Nase berührte fast den Boden. Dicht neben ihm lag der in schwarzen Yakfilz gehüllte Reiter. Vorsichtig hob Shan einen Zipfel der Decke an und erblickte Dutzende von Zöpfen, in deren Enden jeweils eine Holzperle geflochten war. Bei gläubigen Frauen war dies eine althergebrachte Sitte: hundertacht Zöpfe und hundertacht Perlen, die gleiche Anzahl wie in einer mala . Die Frau atmete flach. Ihr Gesicht war mit Staub und Tränen befleckt. Ihr Blick zeugte von dermaßen großer Erschöpfung, daß sie Shan gar nicht wahrzunehmen schien. Unter der Decke, die sie wie einen Umhang trug, befand sich eine weitere Decke, in der ein längliches Bündel quer über ihren Beinen lag.
    Shan drehte sich um. Jowa und Lokesh arbeiteten sich langsam den Pfad hinunter. Der Fahrer führte den Nomaden an einer Hand und Lokesh dreißig Schritte hinter ihm Gendun, als wären die beiden Männer blind.
    Shan hob die zweite Decke und erstarrte. Darin lag ein Junge mit übel zugerichtetem Gesicht. Eines der Augen war komplett zugeschwollen. Langsam schlug Shan die Decke vollständig zurück. Ihm stockte der Atem. Überall war Blut, durchtränkte das Hemd und die Hose des Kindes.
    Er wollte den Jungen samt Decke anheben, um die Frau von seinem Gewicht zu befreien, aber die Decke hatte sich in den Zügeln verfangen. Als Shan versuchte, das Durcheinander zu entwirren, stellte er fest, daß die Frau sich die Zügel um den Unterarm gewickelt hatte. Ihr Handgelenk war purpurrot angelaufen, und die Hand hing in unnatürlichem Winkel schlaff herab.
    Also hob Shan den Jungen aus der Decke und legte ihn auf das trockene Gras. Der Mund des Kindes verzog sich, aber es blieb absolut stumm. Der Kleine war höchstens zehn Jahre alt und brutal mißhandelt worden. Quer über seinen Schultern hatte etwas das Hemd aufgeschlitzt. Er war bei Bewußtsein, und obwohl er starke Schmerzen verspüren mußte, lag er still und leise da und verfolgte mit seinem unverletzten Auge, wie Shan ihn untersuchte. Sein Blick verriet weder Angst noch Wut oder Schmerz. Er war bloß traurig und verwirrt.
    Der Junge hatte sich gewehrt. Seine Handflächen waren von tiefen Schnitten durchzogen, also hatte er vermutlich die Waffe des Angreifers gepackt. Sein Hemd war am Hals aufgerissen, und einige Knöpfe fehlten. Auch die Brust des Jungen wies eine tiefe Wunde auf, die durch die Rippen gedrungen war und aus deren
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