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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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sich nach einer folgenschweren Veränderung auf die neuen Umstände einstellen mußten. Genaugenommen war das eigentliche Problem nicht der Tod an sich, denn für Lokesh und Gendun stellten Tod und Geburt zwei Seiten ein und derselben Münze dar. Aber ein Tod, auf den man nicht angemessen vorbereitet war, konnte eine Wiedergeburt schwierig werden lassen. Als damals im Arbeitslager einer der Mönche durch einen Steinschlag ums Leben gekommen war, war Lokesh zehn Nächte hintereinander wach geblieben, um der unvorbereiteten Seele so lange beizustehen, bis sie erkannt hatte, daß sie sich um eine Wiedergeburt bemühen mußte.
    Shan blickte ein weiteres Mal ins Tal hinunter. Der Reiter kam nach wie vor mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf sie zu und beugte sich nun weit nach vorn, als würde er den Boden absuchen.
    »Womöglich ist es einer deiner Freunde«, sagte Shan zu Jowa, der früher selbst ein Mönch gewesen war, bis das Büro für Religiöse Angelegenheiten ihm die Lizenz zur weiteren Ausübung dieser Tätigkeit verweigert hatte. Jowa glaubte nicht, daß ihre Aufgabe darin bestand, eine Seele zur Ruhe zu bringen. Man hatte eine Lehrerin ermordet, und ein Lama war verschwunden; genau das wurde den Tibetern von den Chinesen ständig angetan. Nach Jowas Verständnis hatte man ihn und die anderen gegen einen Feind ausgesandt. Shan beobachtete, wie ihr Fahrer sich unbewußt über die tiefe Narbe strich, die von seinem linken Auge bis zum Unterkiefer verlief. Während der Jahre in Tibet hatte Shan zahlreiche solcher Männer kennengelernt. Er kannte ihre unerbittlich harten Blicke und die Art, wie sie sich umwandten, wenn ihnen auf der Straße ein Chinese begegnete. Er wußte, welche Narben die Truppen der Öffentlichen Sicherheit hinterließen, die verächtlich Kriecher genannt wurden und gerne mit Peitschen aus Stacheldraht auf unliebsame Demonstranten einprügelten. Zu den Häftlingen der Zwangsarbeitsbrigade, aus der Shan vier Monate zuvor entlassen worden war, hatten viele Männer wie Jowa gehört.
    Allerdings war Shan bereits während des ersten Tages ihrer Reise klargeworden, daß sich mit Jowa noch eine weitere grundlegende Wahrheit verband. Als sie auf eine Gruppe von Reitern getroffen waren, denen der ehemalige Mönch verstohlen eine Parole zuraunte, woraufhin die Männer sie auf einen Pfad abseits der Straße nach Lhasa führten, hatte Shan begriffen, daß Jowa ein purba war, ein Angehöriger der geheimen tibetischen Widerstandsbewegung, die sich nach dem rituellen Dolch der buddhistischen Zeremonien benannt hatte. Statt dem Mönchsgelübde folgte Jowa inzwischen einem anderen Schwur, dem heiligen Versprechen, die verbleibende Zeit seiner gegenwärtigen Inkarnation dem Kampf zur Erhaltung Tibets zu widmen.
    »Nein, das ist keiner von uns«, stellte Jowa fest. »So nicht«, fügte er rätselhaft hinzu. »Falls es Soldaten sind, gehe ich zu dem Lastwagen«, sagte er mit leiser, nachdrücklicher Stimme.
    »Ich werde die Flucht nach Süden ergreifen und die Verfolger auf mich ziehen. Gendun und Lokesh kommen nicht schnell genug voran. Ihr müßt weiter nach oben klettern und euch verstecken.«
    »Nein«, sagte Shan und ließ dabei den Reiter nicht aus den Augen. »Wir bleiben zusammen.«
    Lokesh setzte sich an den Rand des Vorsprungs und streckte die Beine aus, als würde die nahende Bedrohung entspannend auf ihn wirken. Er nahm seine mala , die Gebetskette, vom Gürtel und ließ die Perlen wie unbewußt durch die Finger gleiten. »Ihr zwei seid stark«, sagte der alte Mann. »Gendun braucht euch. Ich bleibe beim Lastwagen. Wenn die Soldaten kommen, ergebe ich mich und behaupte, ich sei ein Schmuggler.«
    »Nein«, wiederholte Shan. »Wir bleiben zusammen.« Jowa war für ihn unverzichtbar, denn der Fahrer kannte sich in der realen Welt aus, der Welt der Kriecher, der Kontrollpunkte und Armeepatrouillen. Lokesh hingegen besaß unersetzliche Kenntnisse der anderen Welt, in der die Lamas lebten. Um an den Ort des Todes zu gelangen, mußten sie Jowas Welt durchqueren, doch dann, dessen war Shan sich sicher, würde er die Antworten in der Welt der Lamas suchen müssen. Lokesh wäre selbst ein Lama geworden, hätte sein Weg als Novize ihn nicht vor langer Zeit, noch vor der Invasion der Chinesen, aus seinem Kloster in den Dienst der Regierung des Dalai Lama geführt.
    Shan sah, daß Jowa die Leinentasche abnahm, die über seiner Schulter und der dicken Wollweste hing, und dann die Hand um den Griff der kurzen
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