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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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Klinge an seiner Taille legte. Über den Priester in seinem Innern verlor Jowa kein Wort, doch am Lagerfeuer erzählte er bisweilen stolz von seiner Abstammung, die sich bis zu den khampas zurückverfolgen ließ, den nomadischen Hirtenstämmen des östlichen Tibet, die seit Jahrhunderten als furchtlose Krieger bekannt waren. Mittlerweile beobachtete Jowa nicht länger den Reiter, sondern die Staubwolke hinter dem Mann. Soldaten verfügten über Maschinengewehre, doch wie Tausende Tibeter vor ihm würde auch Jowa ihnen nur mit seinem Messer entgegenstürmen, falls das nötig war, um wahrhaftig zu bleiben.
    »Aber der Weg«, sagte Shan auf einmal. »Wieso reitet er mitten auf dem Weg?«
    Jowa trat an seine Seite und nickte langsam. »Du hast recht«, entgegnete er und klang dabei verwirrt. »Ein Nomade auf der Flucht würde als erstes die Straße verlassen.« Er vollführte eine ausholende Geste in Richtung der Wildnis, die jenseits des holprigen Pfades lag. Sie befanden sich auf der kargen, windumtosten Changtang, der riesigen leeren Hochebene, die sich über viele hundert Meilen quer durch Zentral- und Westtibet erstreckte und den Nomaden seit jeher als Versteck gedient hatte.
    Lokesh neigte den Kopf und schaute nach Süden zum anderen Ende des Tals. »Er läuft nicht vor jemandem weg. Er läuft zu jemandem hin.«
    Sie sahen den Reiter an dem Felsen vorbeigaloppieren, hinter dem ihr Lastwagen versteckt war. Der Mann kam wieder in Sicht und zügelte dann plötzlich sein Pferd. Während das Tier gemächlich einen Kreis abschritt, konzentrierte der Nomade seine Aufmerksamkeit auf den Weg.
    »Ich dachte, du hättest die Reifenspuren verwischt«, sagte Shan zu Jowa.
    »Das habe ich auch, zumindest für chinesische Augen.«
    Der Fremde stieg ab und führte sein Pferd zu dem Felsen. Kurz darauf stand er neben dem leeren Fahrzeug. Nachdem er sein Reittier an der Stoßstange angebunden hatte, umkreiste er argwöhnisch den Wagen und stieg auf die hintere Kante der offenen Ladefläche, wobei er sich an einer der metallenen Streben festhielt, an denen bei Bedarf eine Plane verschnürt werden konnte. Er ging zu den Fässern, die dort standen, und hob die Deckel an. Dann sprang er wieder hinunter und musterte den oberhalb gelegenen Hang, der überwiegend mit losem Geröll bedeckt war. Zwischen den Felsen wand sich der einsame Ziegenpfad empor, den Shan und die anderen im Morgengrauen zu Fuß erklommen hatten.
    »Manchmal haben die Soldaten tibetische Scouts«, sagte Jowa und berührte Shan an der Schulter, um ihn aufzufordern, sich in den Schatten des Felsüberhangs zu begeben.
    Der dropka eilte nun mit schnellen Schritten den Pfad hinauf. Shan widerstand dem Impuls, Gendun auf die Füße zu zerren, um mit ihm den Bergkamm zu erklettern und zu verschwinden. Die beiden anderen konnten sich wenigstens irgendeine Rechtfertigung ausdenken, denn sie verfügten über gültige Papiere. Bei Shan und Gendun war die Angelegenheit komplizierter. Der Lama hatte sein ganzes Leben in völliger Abgeschiedenheit vom Rest der Welt verbracht und vor Shan noch nie einen Chinesen zu Gesicht bekommen. Für die Behörden existierte er überhaupt nicht. Shan dagegen wußte genau, was es bedeutete, ins Fadenkreuz der Funktionäre zu geraten. Er war ein ehemaliger Untersuchungsbeamter der Regierung, den man in ein tibetisches Arbeitslager verbannt hatte, und seine Freilassung war lediglich inoffiziell erfolgt. Falls man ihn außerhalb Lhadrungs ergriff, würde er als entwichener Strafgefangener gelten. Jowa stieß Shan zu Gendun in den dunkelsten Winkel des Verstecks und baute sich dann schützend vor ihnen auf. Seine Hand lag erneut auf dem Griff der Waffe.
    Der Nomade erreichte den Vorsprung, auf dem sie sich verbargen, machte ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung, drehte sich dann um und kam genau auf sie zu. Er gelangte zu dem Überhang, näherte sich dem Schatten und schirmte seine Augen vor dem Tageslicht ab, um einen Blick in die Höhle zu werfen. »Seid ihr da?« rief er laut und mit vor Angst bebender Stimme. Er war von schmächtiger Statur und trug auf seinem dichten schwarzen Schopf eine dreckige Fellmütze. Unter der chuba war ein verblichenes rotes Hemd zu sehen. Er legte den Kopf auf die Seite und kniff die Augen zusammen, als sei er sich noch immer unschlüssig, was dort vor ihm lauern mochte. Orte wie dieser dienten oft Raubtieren oder gar Bergdämonen als Behausung. Er blickte auf den nördlichen Teil des Weges zurück, als
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