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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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würde er dort nach etwas suchen. Dann legte er in einer demütigen Geste die Handflächen aneinander und tastete sich in die Dunkelheit voran.
    »Wir beten für euch«, rief er laut und verängstigt und blieb dann mit erleichtertem Seufzen stehen, als Lokesh einen Schritt vortrat. Der Mund des Fremden verzog sich zu einem schiefen Lächeln, wie Shan zunächst meinte, bis er erkannte, daß der Mann ein Schluchzen unterdrückte. »Für eure sichere Reise.«
    Lokesh war der bei weitem empfindsamste Tibeter, den Shan je kennengelernt hatte. Er trug seine Gefühle so mit sich herum wie andere Leute ihre Kleidung, völlig offen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, etwas davon zu verbergen. Im Arbeitslager hatte einer der Mönche aus ihrer Baracke gesagt, Lokesh habe glühende Kohlen in sich, die immer wieder unvermutet aufloderten, sobald eine plötzliche Gemütsregung oder Erkenntnis sie anfachte. Wenn das geschah, stieß Lokesh unwillkürlich kleine Stöhnlaute aus oder kreischte sogar auf. Das Geräusch, das er nun von sich gab, glich einem langgezogenen hohen Wimmern, als habe er an dem Nomaden irgend etwas Furchterregendes erblickt. Gleichzeitig vollführte er mit der Hand eine abwehrende Bewegung vor der Brust, als wolle er etwas von sich weisen.
    Jowa trat neben Lokesh. »Was willst du?« herrschte er den Fremden mit lauter Stimme an und versuchte gar nicht erst, sein Mißtrauen zu verbergen. Niemand hätte von ihrer Reise wissen dürfen.
    Der Nomade sah den purba verunsichert an und machte dann einen weiteren Schritt auf sie zu. Im selben Moment wich Lokesh zur Seite, so daß der dropka sich auf einmal Auge in Auge mit Shan befand, hinter dem wiederum Gendun der Sicht des Fremden entzogen war.
    »Ein Chinese!« stieß er erschrocken hervor.
    »Was willst du?« wiederholte Jowa. Er trat hinaus in die Sonne und ließ den Blick über das ganze Tal schweifen.
    Der dropka folgte Shan und Lokesh aus dem Schatten, lief einmal um Shan herum und wandte sich dann wieder an Jowa. »Du bringst einen Chinesen mit, um unserem Volk zu helfen?« fragte er in vorwurfsvollem Tonfall.
    Lokesh legte Shan eine Hand auf die Schulter. »Shan Tao Yun war im Gefängnis«, sagte er strahlend, als wäre dies eine besondere Glanzleistung gewesen.
    Die Wut in den Augen des Nomaden verwandelte sich in Verzweiflung. »Jemand würde kommen, hieß es.« Er flüsterte fast. »Jemand, der uns rettet.«
    »Aber genau das macht unser Shan«, rief Lokesh aus. »Er rettet Menschen.«
    Der Nomade zuckte enttäuscht die Achseln. Er schaute das Tal hinauf und schloß die rechte Hand um die Kette mit Plastikperlen, die an seiner roten Schärpe hing. »Früher, wenn Unheil drohte«, sagte er mit abwesender Stimme, als würde er nicht länger zu den drei Männern sprechen, »wußten wir, wie man einen Priester finden kann. Wir hatten sogar einmal einen echten Priester, aber die Chinesen haben ihn uns weggenommen.«
    Der Ausdruck auf dem Gesicht des Nomaden war Shan in Tibet schon häufig begegnet. Es lag Trauer und Verwirrung darin. Außenseiter hatten der Welt dieser Menschen Schreckliches angetan, und der stolze, unabhängige tibetische Charakter konnte die daraus resultierende Hilflosigkeit nicht bewältigen. Shan folgte dem Blick des Fremden zurück zum oberen Ende des Tals.
    Jemand tauchte zwischen den Staubschwaden auf, ein Reiter, dessen Pferd sich kurz vor dem Zusammenbruch zu befinden schien. Das Tier bewegte sich wankend und ungleichmäßig voran, als sei ihm vor Erschöpfung schwindlig.
    »Als ich jung war«, wandte der Nomade sich nun in neuem, drängendem Tonfall an Lokesh, »gab es einen Schamanen, der die Lebenskraft eines Menschen zur Heilung eines anderen benutzen konnte. Manchmal opferten sich die Alten, um ein krankes Kind zu retten.« Er sah sich verzweifelt nach dem anderen Reiter um. »Ich würde meines mit Freuden geben, um ihn zu retten. Kannst du das tun?« fragte er und kam näher, um Lokesh ins Gesicht zu blicken. »Du hast die Augen eines Priesters.«
    »Warum bist du hergekommen?« fragte Jowa erneut, allerdings nun weitaus freundlicher.
    Der Mann griff unter sein Hemd und zog eine Schnur aus Yakhaar hervor, an der ein silbernes gau hing, eines jener kleinen Medaillons, in denen man ein Gebet nah am Herzen tragen konnte. Er legte beide Hände darum und sah wieder das Tal hinauf, nun jedoch nicht zu dem Reiter, sondern in Richtung der fernen schneebedeckten Gipfel. »Sie haben meinen Vater ins Gefängnis geworfen, und er ist
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