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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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sah erneut zu ihrem Lastwagen. Sie konnten bloß hoffen, daß niemand das Fahrzeug bemerken würde. Es wäre wirklich mehr als ärgerlich, hier oben auf diesem abgelegenen Plateau erwischt zu werden, so kurz vor ihrem Ziel. Nicht nur wegen der Qualen, die ihnen beim Büro für Öffentliche Sicherheit drohten, sondern vor allem, weil sie damit Gendun und die anderen Lamas enttäuschen würden, von denen sie ausgesandt worden waren.
    Lokesh seufzte. »Ich dachte, es würde länger dauern«, sagte er und berührte die Perlen, die an seinem Gürtel hingen. »Diese Frau«, fügte er geistesabwesend hinzu, »sie muß noch immer zur Ruhe gebracht werden.«
    Zur Ruhe gebracht werden. Diese Worte führten Shan ein weiteres Mal vor Augen, wie verschieden sie alle waren und wie unterschiedlich sie die seltsame Aufgabe zu betrachten schienen, die man ihnen zugewiesen hatte. Shan war in ihrem gemeinsamen Bergrefugium von Gendun und einigen anderen Lamas aus seiner Meditationszelle gerufen worden. Die Männer hatten auf Kissen rund um ein knapp zweieinhalb Meter durchmessendes Mandala gesessen, das erst an jenem Nachmittag fertiggestellt worden war. Vier Mönche hatten sechs Monate an diesem detaillierten Lebenskreis gearbeitet, dessen Hunderte von komplizierten Figuren allesamt aus buntem Sand bestanden. In einer großen Kohlenpfanne hatte wohlriechender Wacholder gebrannt, und Dutzende von Butterlampen hatten die Kammer erhellt. Aus einem Raum unter ihnen war wie ferner Donner ein leises Grollen zu vernehmen gewesen. Es hatte von einer riesigen Gebetsmühle gestammt, die sich nur durch die vereinten Kräfte zweier starker Mönche in Drehung versetzen ließ. Eine Viertelstunde lang hatten sie sich in stummer Ehrerbietung auf das Mandala konzentriert, dann hatte Gendun, der dienstälteste Lama, das Wort ergriffen.
    »Du wirst im Norden gebraucht«, hatte er Shan mitgeteilt. »Eine Frau namens Lau ist getötet worden. Eine Lehrerin. Und ein Lama wird vermißt.« Sonst nichts. Die Lamas interessierten sich kaum für den Rest der Welt und waren sehr zögerlich, etwas als Tatsache anzuerkennen. Gendun hatte ihm die grundlegende Wahrheit des Ereignisses verkündet; alles Weitere wäre den Lamas ohnehin nur als reines Gerücht erschienen. Gemeint hatten sie folgendes: Dieser Lama und die Tote mit dem chinesischen Namen waren für sie von entscheidender Bedeutung, und Shan sollte nun alle anderen Wahrheiten rund um diesen Mord herausfinden.
    Shan hatte nicht gewußt, wie lange die Reise dauern würde. Als er weisungsgemäß an dem geheimen Durchgang erschienen war, der zurück in die Außenwelt führte, hatte er angenommen, er solle das der Einsiedelei am nächsten gelegene Dorf am nördlichen Ende des Tals von Lhadrung aufsuchen. Auch war ihm keinesfalls klar gewesen, daß Gendun beabsichtigte, ihn zu begleiten. Selbst als der Lama persönlich am Ausgang aufgetaucht war, hatte Shan zunächst geglaubt, sein Lehrer wolle ihn verabschieden. Dann jedoch hatte er Genduns Füße gesehen. Der Lama hatte unter seinem Gewand nicht etwa die üblichen Sandalen getragen, sondern schwere Schnürstiefel.
    Sie waren bis zum Anbruch der Dämmerung gegangen und hatten Lokesh an der alten Hängebrücke getroffen, die das geheime Kloster mit dem Rest der Welt verband. Der alte Tibeter und Shan hatten sich herzlich umarmt. Während der gemeinsamen Haft im Arbeitslager von Lhadrung waren sie gute Freunde geworden. Dann waren sie zu dritt eine weitere Stunde gewandert, bis ein Lastwagen neben ihnen gehalten hatte. Shan hatte anfangs an einen reinen Zufall gedacht, an den Gefallen eines freundlichen Fahrers. Doch der Fahrer war Jowa gewesen. Gendun hatte sich zum erstenmal in der Nähe einer modernen Maschine befunden und das Fahrzeug mit großen Augen gemustert. Er hatte erst den Lastwagen gesegnet, danach Jowa und war eingestiegen. Jowa hatte Shan mit einem mißmutigen Blick bedacht, dann den Motor angelassen und war zwölf Stunden ohne Pause gefahren. Seitdem waren sechs Tage vergangen.
    Shans Verwirrung hatte immer mehr zugenommen. Vergeblich rechnete er jeden Tag aufs neue mit ein paar klärenden Worten von Gendun. Lokesh dagegen schien nie am Zweck ihrer Reise zu zweifeln. Seiner Ansicht nach würden sie die tote Lehrerin zur Ruhe bringen, sich also an die Seele der Frau wenden und sicherstellen, daß sie ein Gleichgewicht erlangt hatte und zur Wiedergeburt bereit war. In seinen Augen mußte die Frau sich an ihren Tod gewöhnen, so wie auch die Lebenden
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