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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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bereits die Schafe vom Berg kommen hören, und ich mußte doch unbedingt mit dem Kochen beginnen. Dann bellten plötzlich unsere Hunde, als würden sie einen Wolf verscheuchen wollen.« Jowa fing an, aus dem Leinenstoff eine Schlinge für ihren Arm zu fertigen. »Ich rannte los. Als ich auf einem Felsvorsprung ankam, sah ich zum erstenmal, wie das Ungeheuer Alta angriff. Es hatte sich auf seinen beiden Hinterbeinen aufgerichtet. Sein Fell sah aus wie das eines Leoparden. Ich lief schneller. Dann bin ich gestolpert und habe mir den Kopf gestoßen. Ich stand auf und rannte weiter. Als ich kam, drehte es sich um. Seine Vorderbeine hatten Klauen, die wie die Hände eines Menschen aussahen, und eine davon hielt ein Messer. Doch es ließ das Messer fallen und nahm einen glänzenden Stock, so lang wie der Arm eines Mannes. Es packte den Stock mit beiden Klauen und schlug mich, als ich die Hand hob. Ich stürzte, und meine Hand brannte wie Feuer. Dann kroch ich zu dem Jungen und warf mich über ihn. Das Ungeheuer kam auf uns zu und schwang den Stock, aber der Blitz hielt es zurück.«
    »Der Blitz?«
    »Im Norden. Ein einzelner Blitz. Eine Botschaft. Auf diese Weise sprechen die Dämonen miteinander«, sagte die Frau mit angsterfüllter Stimme. »Das Ungeheuer wich zurück. Dann wurde alles schwarz. Als ich wieder aufwachte, dachte ich zuerst, wir seien beide gestorben und in einer der dunklen Höllen gelandet, doch mein Mann war da und sagte, es sei inzwischen Nacht.«
    »Haben Sie das Gesicht dieses Wesens gesehen?« fragte Shan.
    Der Blick der Frau war unverwandt auf den Jungen gerichtet, der offenbar Alta hieß. Sie schüttelte den Kopf. »Das Ungeheuer hatte kein Gesicht.«
    Diese Worte ließen Lokesh leise aufstöhnen. Shan drehte sich um. Der alte Tibeter hielt das Handgelenk des Jungen, starrte jedoch besorgt den Weg hinauf, als rechne er jeden Moment mit dem Auftauchen des gesichtslosen Dämons.
    Shan beugte sich über das Kind. »Alta, hat es etwas zu dir gesagt? Wußtest du, wer das war? Es war ein Mensch. Es muß ein Mensch gewesen sein.«
    Der Junge blickte ihn reglos an, und sein Auge wirkte wie ein harter schwarzer Kiesel. Er ließ durch nichts erkennen, ob er Shan gehört hatte.
    »Es hatte die Gestalt eines Leoparden angenommen«, sagte die Frau. »Falls es wie ein Mensch aussehen will«, fügte sie unheilvoll hinzu, »verwandelt es sich eben in einen Menschen.«
    »Es gibt eine alte Dämonin«, warf der Nomade beinahe geistesabwesend ein. »Hariti die Kinderfresserin. Manchmal wird sie sehr hungrig. Sobald sie erst mal getötet hat, kann sie nicht mehr aufhören.« Hariti war eine Dämonin des alten Tibet, wußte Shan. Früher hatten die Mönche ihr jeden Tag einen kleinen Anteil der Nahrung geopfert, um so ihre Gier auf Kinder zu besänftigen.
    Shan betrachtete Lokesh, der wiederum den Jungen ansah. Der alte Mann legte dem Kind kurz eine Hand auf den Kopf, griff dann in seinen Beutel und holte einen Ledersack daraus hervor, in dem mehrere kleinere Behälter verstaut waren. Er öffnete drei dieser Säckchen, entnahm jedem eine Prise Pulver und gab dieses dann in den dampfenden Topf. »Gegen die Schmerzen«, sagte Lokesh. »Er hat sehr starke Schmerzen.«
    »Was können wir tun?« fragte die Frau.
    Lokesh warf Shan einen traurigen Blick zu und wandte sich dann zögernd wieder an die Frau. »Es gibt Worte, die gesprochen werden müssen.«
    Der Satz schien die beiden dropkas wie ein Hieb zu treffen. Die Frau stöhnte auf und krümmte sich. Der Mann vergrub das Gesicht in den Händen. Es gibt Worte, die gesprochen werden müssen. Lokesh meinte die Riten zum Übergang einer Seele. Der verwirrte matte Blick des Jungen lag immer noch auf Shan.
    Plötzlich keuchte die Frau erschrocken auf. Shan hob den Kopf und sah, daß sie über seine Schulter starrte. Dort stand Gendun und stellte in seinem Lächeln Buddhas umfassende Gleichmut zur Schau. Der Nomade stieß einen überraschten Schrei aus und verneigte sich, so daß seine Stirn das Gras zu Genduns Füßen berührte.
    Shan begriff, daß weder der dropka noch seine Frau Gendun bislang bemerkt hatten. Vielleicht hielten sie ihn für eine Erscheinung oder glaubten, Lokesh habe ihn herbeigezaubert. Der Lama legte dem Nomaden eine Hand auf den Kopf und richtete ein kurzes Gebet an den Mitfühlenden Buddha. Dann wiederholte er das Ganze bei der Frau, die daraufhin etwas ruhiger wurde. Wir hatten sogar einmal einen echten Priester, hatte der Mann gesagt. Aber die Chinesen
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