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Das Auge von Tibet

Das Auge von Tibet

Titel: Das Auge von Tibet
Autoren: Eliot Pattison
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betäubt angesichts der eigenen Hilflosigkeit und der grausamen Mißhandlung, die der Junge erlitten hatte.
    Auch über den Nomaden senkte sich ein hartes düsteres Schweigen. Immer wieder öffnete und schloß er den Mund, als wolle er etwas sagen, doch der überwältigende Schmerz hatte sich seiner Zunge bemächtigt. Endlich, als der Blick des Jungen sich auf den dropka richtete, fand dieser seine Stimme wieder und begann zärtlich von Frühlingsweiden zu erzählen, von bunten Blumen und jungen Vögeln auf den Südhängen. Es war eigentlich nichts Konkretes, nur schöne Erinnerungen aus ihrem gemeinsamen Leben. Das Antlitz des Kindes wurde ganz friedlich.
    Jowa, dessen Gesicht ebenfalls von Kummer gezeichnet war, verließ sie und stieg auf die Felsen, um Wache zu halten. Gendun und Lokesh beteten. Der Nomade saß, über den Kleinen gebeugt, da und redete immer weiter, nahezu flüsternd. Und nach einer Stunde gab der Junge namens Alta ein langgezogenes leises Stöhnen von sich und starb.
    Lange Zeit sprach niemand ein Wort. Schließlich wischte die Frau das Gesicht des Jungen ab und verbarg es unter der Decke.
    »Nach dem Brauch seines Volkes«, sagte Shan langsam, weil er nicht sicher war, wie die Eltern reagieren würden, »sollte er vor Einbruch der Dunkelheit beerdigt werden.«
    Der Nomade nickte, und Shan holte eine Schaufel aus dem Lastwagen. Während er das Grab aushob, sammelte die Frau Steine, um die Stelle durch einen kleinen Felshaufen zu markieren. Als der Junge dann in seiner Decke beigesetzt wurde, sprach Gendun mit sanfter Stimme ein buddhistisches Totengebet.
    Der dropka harrte lediglich fünf Minuten an der Grabstätte aus, seufzte tief und ging dann, um die Pferde zu holen.
    Shan half der Frau, die Steine am oberen Ende des kleinen Hügels aufzuschichten. »Es ist ein kasachisches Wort«, sagte sie und bezog sich dabei auf die Sprache eines der moslemischen Völker, die nördlich des Kunlun-Gebirges lebten. »Eine zheli ist ein Seil, das man zwischen zwei Bäume oder Pflöcke spannt, um daran die Stricke der Jungtiere anzubinden. So lernen die Kleinen einander kennen und gewinnen erste Eindrücke ihrer Welt. Lau hat mit diesem Wort ihren Unterricht für die Waisen bezeichnet, ihre ganz besonderen Kinder, denen sie Halt zu geben versuchte.«
    »Ihr Mann sagte, wir seien gekommen, um die Kinder zu retten. Hat er damit die zheli gemeint?«
    Die Frau nickte. »Als dieser andere Junge starb, wurde uns klar, daß wir fliehen mußten. Aber wir waren nicht schnell genug.«
    Neben Shan stöhnte Lokesh auf und beugte sich vor. »Noch ein toter Junge?« fragte er bestürzt. »Noch einer von Laus Schülern?«
    »Zuerst Lau«, sagte sie. »Dann ein kasachischer Junge in der Nähe von Yutian.«
    »Kannst du dich an seinen Namen erinnern?« fragte Lokesh drängend. Shan sah seinen Freund verwirrt an. Es klang, als würde Lokesh an einen ganz bestimmten Jungen denken.
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Zur zheli gehören zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Kinder. Kasachen, Tibeter. Und Uiguren«, fügte sie hinzu und benannte damit die größte von Chinas moslemischen Minderheiten. Dann drehte sie sich um und nickte ihrem Mann zu, der die beiden Pferde brachte. Er hatte den Tieren die Sättel abgenommen und schaute nach Norden auf die schneebedeckten Gipfel des Kunlun. »Unser Alta war ein Kasache«, sagte sie leise.
    »Ein Lama«, richtete Shan sich an den Mann. »Haben Sie von einem vermißten La ma gehört?«
    Der Nomade schüttelte den Kopf. »Es gibt hier schon seit vielen Jahren keine Lamas mehr. Alle vermissen sie«, sagte er. Anscheinend hatte er die Frage falsch verstanden. Sein Blick blieb auf die Berge gerichtet. »Ihr müßt euch beeilen«, fügte er auf einmal schroff, beinahe unfreundlich hinzu. »Der Tod geht weiter um. Eine Dämonin hat die zheli gefunden und wird nicht mit dem Morden aufhören.«
    Shan starrte ihn schweigend an.
    »Alias Seele ist in Gefahr«, fuhr der dropka fort und klang wieder so elend und verzweifelt wie zuvor. »Ein kleiner Junge wie er und dann so unvorbereitet.« Ein Windstoß fegte über sie hinweg und schien dem Mann die Worte von den Lippen zu reißen. Er hielt inne und sah Gendun an. Der Nomade befürchtete, die Seele des Kindes würde hilflos umherstreifen, da ihr jeglicher Halt durch Glaube oder Familie fehlte. Auf diese Weise wäre sie leichte Beute für alle Wesenheiten, die ihr hier draußen auflauern mochten.
    Gendun erwiderte den Blick des Mannes einen Moment
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