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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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auferstehen lassen müssen. Trotzdem stimmte sie Alis Vorschlag zu und öffnete den Kasten.
    Vor ihren Augen lagen die Steine der Fatima. Fünf Saphire von so unvergleichlicher Schönheit, dass einem beinahe die Augen wehtaten, wenn man sie ansah. Beatrice öffnete ihre Faust und legte den sechsten dazu. Nun fehlte nur noch einer. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie den kleinen Beutel hervorholte, in dem sie ihren Stein aufbewahrte. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Bald, nur noch wenige Sekunden, dann würde das Auge vollständig sein. Ein Märchen würde wahr werden und dann ...
    Dann setzte ihr Herzschlag aus - vor Schreck, vor maßlosem Entsetzen. Der Beutel war leer. Sie durchwühlte den Beutel, die Geheimtasche, in die sie den Beutel gesteckt hatte, krempelte beides um, suchte alle anderen Taschen ab, die sich an ihrer Kleidung befanden, tastete die Wäsche ab. Vielleicht hatte sie den Saphir in ihrer Verwirrung woanders hingesteckt, vielleicht war er durch das Futter in die Kleidung gerutscht und hatte sich dort verfangen. Vielleicht ...
    ... hatte sie ihn verloren? War der Stein, das kostbarste Kleinod, das es auf dieser Welt gab, gestohlen worden?
    Beatrice wurde schwarz vor Augen. Ihr war schlecht. Alles drehte sich um sie, und sie spürte, wie ihr Kreislauf versagte und sich das Blut in ihren Beinen sammelte. Fünf Liter Blut. Das Volumen schien ihre Waden sprengen zu wollen, während ihr Kopf sich leicht und hohl anfühlte wie ein mit Gas gefüllter Luftballon.
    »Beatrice, was ist los?«
    Erst jetzt begriff sie, dass Ali mit ihr sprach, dass er sie auf das Bett gelegt hatte, ihr Wangen tätschelte und ihr Wasser ins Gesicht sprengte. »Was ist mit dir? Hast du ...«
    »Ich habe ihn nicht mehr, Ali«, flüsterte sie und war selbst erschrocken, wie geisterhaft ihre Stimme klang. »Ich habe den Stein der Fatima verloren.«
    Sie saßen nebeneinander auf dem Bett, eng aneinander geschmiegt wie zwei Menschen, die soeben vom Schicksal mit einer Hiobsbotschaft geschlagen worden waren. Ali hatte seine Kleidung ebenfalls durchsucht, sie hatten das Schlafgemach auf den Kopf gestellt, Decken und Kissen durchwühlt - vergeblich. Sie hatten hin und her überlegt, wo und wie Beatrice den Stein verloren haben könnte. Oder hatte ihn vielleicht Mustafa gestohlen? War die Warnung nur vorgetäuscht und alles bloß Theater gewesen, um sich erneut an sie heranzuschleichen und ihr den Stein wegzunehmen? Doch egal, was sie auch überlegten, das Ergebnis blieb immer dasselbe - der Stein der Fatima, das fehlende siebte Stück, war weg.
    »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Beatrice wohl schon zum zwanzigsten Mal. »Was sollen wir nur machen?«
    Ali schüttelte den Kopf, langsam und bedächtig.
    »Vielleicht können wir nichts dafür. Vielleicht sollte das Auge noch nicht vollständig sein. Vielleicht ist die Zeit noch nicht gekommen. Und wir ...«
    Beatrice sah ihn an. Sie ahnte bereits, was er sagen wollte, noch bevor er weitersprach. Natürlich. Es war logisch, vernünftig, die einzige sinnvolle Konsequenz, die man aus den Ereignissen ziehen konnte. Trotzdem, sie wollte es nicht hören. Sie schüttelte den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Doch Ali fuhr unbeirrt fort. Wie konnte er nur so unbarmherzig sein?
    »Wir müssen uns trennen, Beatrice«, sagte er leise und ruhig, mit einer Stimme, als würde er ihr bloß erzählen, dass für morgen Regen angekündigt war und ihr geplanter Ausflug zur Ostsee wahrscheinlich ausfallen musste.
    »Nein, Ali, wir werden einen anderen Weg finden. Es muss einen anderen Weg geben. Wir können vielleicht doch ...«
    »Nach Isfahan gehen? Nur um, wie du vorhin selbst gesagt hast, nach wenigen Wochen wieder fliehen zu müssen?« Er lächelte. »Du hattest Recht, Beatrice. Hier in diesem Land, unter den Augen der Fidawi sind die Steine der Fatima nicht sicher. Und ihr beide auch nicht. Geh zurück. Bring Michelle und die Saphire zu dir nach Hause, in deine Welt.«
    »Und was ist mit dir? Willst du etwa nicht mitkommen?« Beatrice war wütend, empört, verzweifelt. Und doch kannte sie die Antwort. Kannte sie ebenso wie das Ende von Der mit dem Wolf tanzt, einem Film, den sie mindestens fünfzehnmal gesehen hatte. Einem Film ohne Happyend.
    »Du weißt genau, dass es nicht geht«, sagte Ali leise und legte ihr gleich einen Finger auf den Mund, um jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. »Jemand muss den verlorenen
    Stein suchen. Wir können kaum erwarten, dass Moshe Ben Maimon das
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