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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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niemals erfahren würde, was er getan hatte. Er konnte nicht mehr nach Alamut zurück. Er hatte seinen Auftrag verraten. Er hatte die Fidawi verraten. Er hatte den Großmeister selbst verraten. Doch auch wenn das nicht gewesen wäre, würde er nicht mehr nach Alamut zurückkehren können. Er hatte hinter den Vorhang der Bruderschaft geblickt, den dichten aus Glauben und Frömmigkeit gewobenen Schleier gelüftet. Und da hatte er Härte, Selbstherrlichkeit und sogar gemeinen Mord gesehen. Nein, er konnte nicht zurück. Er hatte für sich entschieden, dass er Allah nicht dienen konnte - wenigstens nicht auf die Weise der Fidawi, nicht mit gemeinem Mord. Wie er sich von Meister Osman trennen sollte, wusste er noch nicht. Er würde es auf sich zukommen lassen. Und falls Meister Osman ihn durchschauen sollte, war ohnehin alles egal. Dann war er noch bevor die Sonne wieder aufging tot.
    »Komm, beeil dich!«, zischte Meister Osman ihm zu. »Es ist nicht mehr weit. Hast du alles bei dir?«
    Mit steifen Fingern tastete Mustafa seinen Gürtel ab und nickte. Ja, da hingen sie, die Gegenstände, über deren Besitz er noch vor wenigen Tagen so unendlich stolz gewesen war - das Würgeseil, der Dolch, die Phiole mit dem tödlichen Gift. Jetzt wurde ihm bei dem bloßen Gedanken an sie übel.
    »Gut. Wir gehen vom Turm aus ins Haus und prüfen zuerst die Lage. Lautlos, wir wollen nicht die ganze Dienerschaft auf dem Hals haben. Du übernimmst das Mädchen. Ich kümmere mich um die Frau und den Mann.«
    Mustafa nickte. »Wie soll ich ...«
    »Nimm das Würgeseil. Dann schreit das Balg nicht so.« Meister Osman sprach über den Mord, als würden sie nichts anderes tun als eine Melone vom Feld ernten. Eisige Kälte kroch über Mustafas Rücken und ließ ihn erzittern. »Hast du noch Fragen?«
    »Nein, es ist nur ...«
    Der Meister nickte kurz. »Beim ersten Mal ist jedem etwas unwohl«, erklärte er ernst und tätschelte Mustafa kurz den Kopf. »Aber du darfst nie vergessen, dass du es für Allah tust. Es ist deine heilige Pflicht. Und Allah wird dich - und gegebenenfalls deine Familie - für diesen Dienst reich belohnen.«
    »Ja, Meister«, erwiderte Mustafa und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Er konnte sich nicht vorstellen, weshalb er jemals den Wunsch gehabt hatte, ein Fidawi zu werden. War er etwa die ganze Zeit über mit Blindheit geschlagen gewesen?
    Sie liefen noch über zwei weitere Dächer, dann erreichten sie den Turm, der zum Haus des Arztes gehörte. Niemand schien sie zu bemerken, Wachen gab es keine. Mustafas Herz klopfte schneller. Hatte der Arzt die Stadt bereits verlassen, oder hatte er seine Warnungen ignoriert? Nicht mehr lange, und sie würden es wissen.
    Sie kletterten über die Mauer und ließen sich lautlos auf die Plattform gleiten. Während Meister Osman zur Tür huschte, um zu prüfen, ob sie verschlossen war, und sie zu öffnen, betrachtete Mustafa den Himmel. Die Wolken schoben sich ein wenig zur Seite, und er konnte ein paar Sterne sehen. Er musste zweimal hinschauen, bis er begriff, dass das, was er dort oben sah, die Form eines Auges hatte.
    »Meister!«, flüsterte Mustafa und deutete nach oben. »Seht nur. Was ist das? Was hat das zu bedeuten?«
    Meister Osman blickte kurz von seiner Arbeit auf.
    »Dies ist das Auge der Fatima«, sagte er, und im schwachen Licht der Sterne konnte Mustafa sein Lächeln erkennen. »Das ist ein gutes Zeichen. Allahs Segen ruht auf uns. Schon bald werden wir die Frevler bestrafen, und der Stein der Fatima wird uns gehören. Uns, den rechtmäßigen Erben des Auges.«
    Er widmete sich wieder dem Türschloss, und mit wenigen geschickten Handbewegungen hatte er es geöffnet.
    »Ich gehe hinein. Warte hier, bis ich dir ein Zeichen gebe oder zurückkomme.«
    Mustafa war allein - allein mit seinen Gedanken, seinen Gewissensbissen und seinen Zweifeln. Wenn der Arzt und seine Familie sich nun doch noch im Haus befanden? Hätte er nicht lieber schon viel eher Meister Osman zurückhalten sollen? Vielleicht sollte er jetzt selbst die Gelegenheit nutzen und fliehen? Doch er konnte sich nicht rühren. Unablässig starrte er das Auge an, das klar und deutlich über ihm stand und ihn anzusehen schien - freundlich, gütig, tröstend. Vielleicht würde doch noch alles gut werden. Vielleicht ...
    In diesem Moment begann sich das Auge zu drehen. Zuerst glaubte Mustafa, ihm wäre schwindlig und er würde gleich ohnmächtig werden, doch ein
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