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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
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– als hätte er sich nun tatsächlich gerächt. Seit dreiunddreißig Jahren war Peters Mörder gerächt. Was Takes wohl dazu sagen würde? Noch drei Jahre danach hatten seine Schüsse ein Todesopfer gefordert.
    »Warum?« fragte er.
    »Was sagst du?«
    »Warum hat er Selbstmord begangen? Was er getan hat, ist doch aus reinem Selbsterhaltungstrieb geschehen? Vielleicht hat er es in erster Linie für dich getan. Er hat nur dem Zufall auf die Sprünge geholfen.«
    Irgendwo mußte ein Stau sein, sie kamen fast nicht mehr vorwärts. Karin schüttelte den Kopf.
    »Nicht?« fragte Anton.
    »Es hat doch niemand für möglich gehalten, daß sie auch die Hausbewohner erschießen würden. Das war bis dahin noch nie vorgekommen… Unser Leben war erst in Gefahr, als Peter mit der Pistole vor uns stand.«
    »Dann verstehe ich es trotzdem noch nicht. Ihm war es also lieber, daß unser Haus zum Teufel ging und nicht seines, allright, nett ist das zwar nicht, aber begreiflich. Daß danach alles auf diese Weise eskalieren würde, konnte er nicht vorhersehen. Und daß es Tote geben würde, war von ihm sicher nicht gewollt. Ich kann mir vorstellen, daß er Gewissensbisse hatte, oder meinetwegen auch Angst… aber Selbstmord?«
    Er sah Karin schlucken.
    »Toni…«, sagte sie, »da ist noch etwas, das du wissen mußt…« Sie blieb stehen, mußte dann aber wieder einen Schritt weitergehen. »Als wir die Schüsse gehört hatten und Ploeg vor unserem Haus liegen sahen, war das einzige, was er sagte: ›O Gott, die Eidechsen.‹«
    Mit großen Augen sah Anton über sie hinweg. Die Eidechsen. War so etwas möglich? Lag alles an den Eidechsen? Waren die Eidechsen die letztlich Schuldigen?
    »Du meinst«, sagte er, »ohne die Eidechsen wäre das alles nicht passiert?«
    In Gedanken versunken nahm Karin ein Haar von seiner Schulter und ließ es auf die Straße fallen, indem sie Daumen und Zeigefinger aneinander rieb.
    »Ich habe nie verstanden, was sie ihm bedeutet haben. Ein Stück Ewigkeit und Unsterblichkeit, etwas von einem Geheimnis, das er irgendwie durch sie besaß. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Wie kleine Kinder, die auch immer ein Geheimnis haben. Er konnte die Tiere stundenlang beobachten und sich nicht rühren, genau wie sie. Das hatte etwas mit dem Tod meiner Mutter zu tun, glaube ich, aber frag mich nicht, was, ich weiß es nicht. Wenn du wüßtest, mit wieviel Mühe er sie im Hungerwinter am Leben erhalten hat: Das war alles, was ihn auf der Welt noch interessierte. Vielleicht hat er diese Viecher mehr geliebt als mich. Sie waren für ihn so etwas wie ein letzter Halt.«
    Der Demonstrationszug kam nun überhaupt nicht mehr weiter. Da die vorher in eigenen Blöcken marschierenden Demonstranten sich nun dem Hauptzug anschließen wollten, war die Route bald völlig verstopft. Sie standen jetzt dicht hinter einem Spruchband, das nicht straff gehalten wurde und ihnen die Aussicht nach vorn versperrte.
    »Aber nachdem das alles passiert war«, fuhr Karin fort, »Peter tot, deine Eltern tot, da wurden sie für ihn plötzlich ganz einfach Eidechsen, Tiere. Als wir von der Ortskommandantur zurückkamen, hat er sie sofort alle totgetreten. Ich hörte ihn oben wie einen Verrückten wüten. Danach schloß er die Tür ab, und ich durfte nicht mehr hinein. Erst Wochen später hat er den ganzen Krempel aufgeräumt und im Garten vergraben, was davon noch übrig war.« Karin machte eine fragende Gebärde. »Vielleicht war das die Einsicht, mit der er nicht leben konnte: daß da drei Menschen wegen seiner Liebe zu einem Haufen Reptilien gestorben waren, und daß du ihn deshalb ermorden würdest, wenn du die Chance bekämst.«
    »Wieso denn?« fragte Anton. »Ich wußte doch gar nichts davon.«
    »Aber ich wußte es. Und er wußte, daß ich es wußte. Darum mußte ich unbedingt mit ans andere Ende der Welt, obwohl ich gar nicht wollte. Aber letztlich hatte er dich gar nicht nötig, um ermordet zu werden. Du warst in ihm.«
    Anton fühlte, daß ihm schlecht wurde. Die Erklärungen waren fast noch grausamer als die Wirklichkeit. Er sah, daß ihr Gesicht immer noch verweint war. Er mußte jetzt weg, sie nie mehr sehen – nur eines mußte er noch wissen. Sie sprach weiter, aber kaum noch zu ihm:
    »Er war ein todunglücklicher Mann. Wenn er nicht mit seinen Eidechsen beschäftigt war, saß er da und starrte in Atlanten. Die Route nach Murmansk, amerikanische Geleitzüge… Er war zu alt, um nach England zu fliehen, so
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