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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
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wußte sie damals möglicherweise noch nicht, daß seine Eltern nichts mehr erzählen konnten; zudem hätte er den Hergang ja auch selber erzählen können, aber es hatte niemand danach gefragt.
    »Also daß Ploeg erst bei euch vor der Tür lag?«
    »Ja.«
    »Und daß ihr ihn bei uns hingelegt habt?«
    Sie nickte. Vielleicht glaubte sie, daß er ihr das nun noch einmal unter die Nase reiben wollte, aber daran hatte er am allerwenigsten gedacht. Sie schwiegen eine Weile, gingen nebeneinander im Demonstrationszug und doch nicht im Demonstrationszug.
    »Hattest du keine Angst«, fragte Anton, »daß sie euer Haus auch noch in Brand stecken würden?«
    »Hätten sie es nur getan«, sagte Karin, als hätte sie auf die Frage gewartet. »Was meinst du, wie ich mich gefühlt habe, nach all dem, was geschehen ist? Wenn sie das getan hätten, wäre mein Leben anders verlaufen. In diesem Augenblick wäre es mir am liebsten gewesen, sie hätten mich erschossen, oder Peter hätte es getan.«
    Anton hörte, daß sie es ernst meinte. Er war versucht, sie zu berühren, unterließ es aber.
    »Was haben sie gesagt, als sie es hörten? War der Ortskommandant auch dabei?«
    »Das weiß ich doch nicht. Ich wurde von einem Deutschen in Zivil verhört. Erst…«
    »Hatte er eine Narbe im Gesicht?«
    »Eine Narbe? Glaube ich nicht. Warum?«
    »Erzähl weiter.«
    »Erst sagte er nur, ohne mich anzuschauen: ›Das ist mir wurscht, wer wie wo was‹, das weiß ich noch genau. Dann legte er plötzlich seinen Füller hin, verschränkte die Arme, sah mich eine Weile an und sagte dann respektvoll: ›Gratuliere.‹«
    Anton war versucht, sie mit dem gleichen Kompliment zu beglückwünschen, aber er beherrschte sich.
    »Hast du das deinem Vater erzählt?«
    Mit einer Art Abwesenheit in der Stimme sagte Karin:
    »Er hat nie erfahren, was ich ausgesagt habe, und ich nicht, was er erzählt hat. Wir haben uns erst am nächsten Morgen wiedergesehen, als wir nach Hause durften. Bevor ich etwas sagen konnte, sagte er: ›Karin, darüber reden wir nie wieder, verstanden?‹«
    »Und du hast verstanden?«
    »Er hat nie wieder darüber gesprochen, mit keinem Wort, sein ganzes Leben lang nicht. Auch nicht, als wir nach Hause kamen und den schwelenden Trümmerhaufen sahen und von Frau Beumer hörten… ich meine, daß auch dein Vater… und deine Mutter…«
    Die Frau, die den Mann im Rollstuhl geschoben hatte, war verschwunden, aufgesogen von einem Strom, der einem anderen Bett folgte. Angefeuert von einer Frau mit einem Megaphon wurden wieder Losungen gerufen und von Händeklatschen begleitet, aber die nicht verstärkten Stimmen waren kaum zu hören. Die meisten Leute gingen schweigend weiter, als folgten sie dem Sarg eines geliebten Toten. Überall auf den Bürgersteigen standen Menschen und schauten sich die vorbeimarschierenden Demonstranten an. Es gab etwas, was die, die zuschauten, von denen, die im Zug mitgingen, trennte. Etwas Kaltes, das mit Krieg zu tun hatte.
    »Ein paar Jahre nach dem Krieg«, sagte Anton, »bin ich noch einmal bei Beumers gewesen. Da hörte ich, daß ihr kurz nach der Befreiung weggezogen seid.«
    »Emigriert. Nach Neuseeland.«
    »So?«
    »Ja«, sagte Karin und schaute zu ihm auf. »Weil er Angst vor dir hatte.«
    »Vor mir?« fragte Anton lächelnd.
    »Er sagte, er wollte ein neues Leben beginnen, aber ich glaube, er wollte dir nicht unter die Augen kommen. Vom ersten Tag an hat er nach der Befreiung alle Hebel in Bewegung gesetzt, um wegzukommen. Ich weiß genau, daß er Angst hatte, du könntest, wenn du erwachsen wärest, eines Tages kommen, um dich zu rächen – auch an mir.«
    »Ich bitte dich!« sagte Anton. »Auf den Gedanken bin ich wirklich noch nie gekommen!«
    »Aber er. Ein paar Tage nach der Befreiung klingelte dein Onkel bei uns, aber als er sagte, wer er war, knallte ihm mein Vater sofort die Tür vor der Nase zu. Von diesem Augenblick an hatte er keine Ruhe mehr. Ein paar Wochen später sind wir dann zu meiner Tante gezogen, nach Rotterdam. Da er im Hafen irgendwelche Beziehungen hatte, noch von früher, konnten wir noch vor Ende des Jahres abreisen, mit einem Frachtschiff. Wir waren vielleicht sogar die ersten niederländischen Einwanderer in Neuseeland.« Plötzlich schaute sie ihn mit einem seltsamen Blick an. »Und dort«, sagte sie, »hat er neunzehnhundertachtundvierzig Selbstmord begangen.«
    Der Schreck, mit dem Anton dies hörte, verwandelte sich sofort in ein Gefühl der Zustimmung und Befriedigung
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