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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
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Erpresser ist, dann bist du es. Ich bin ganz bestimmt kein Kommunist geworden, falls du das meinst. Wie sollte ich? Ein Fünfziger wird nie zum Groschen. Aber die Kernwaffen sind jetzt doch wohl die größere Gefahr für die Menschheit. Du mußt sie dir vorstellen wie einen Angriff aus dem Weltraum, sie gebrauchen die Menschheit nur. Jede neue Aufrüstung wird als Reaktion auf die Rüstung der Gegenseite ausgegeben, die dann ihrerseits wieder darauf reagiert. So schieben sie sich unentwegt gegenseitig die Verantwortung zu, und so türmen sich die Waffen – und eines Tages gehen sie los, das ist todsicher. Und statistisch unvermeidlich. Genauso unvermeidlich wie die Tatsache, daß Adam und Eva eines Tages vom Baum der Erkenntnis essen mußten. Aber solche Äpfel müssen wir vernichten.«
    Anton nickte. Das Plädoyer verblüffte ihn, aber Zahnärzte waren nun einmal verrückt, das war in Medizinerkreisen sprichwörtlich, und vielleicht war auch etwas Wahres daran. Peter kam und schloß sein Fahrrad ab. Während Anton ihn beobachtete, über ihnen ein Hubschrauber ratterte und das Dröhnen in der Ferne zunahm, stieg ein seltsam warmes Gefühl in ihm auf, das ihn zu seiner Überraschung plötzlich mit dem verband, was nun in der Stadt vor sich ging.
    Das letzte Wegstück bis zum Versammlungsort kamen sie kaum noch vorwärts. Unter einem großen, schwarzen Ballon in Form einer niedersausenden Rakete standen vom Concertgebouw bis zum Rijksmuseum Zehntausende, Hunderttausende mit Schildern und Spruchbändern, stellenweise in einer Breite von zehn Metern, und aus allen Richtungen strömten immer noch mehr Demonstranten in straßenbreiten Kolonnen auf den Platz. Aus Lautsprechern an Bäumen und Laternenpfählen dröhnte eine Rede, die anscheinend auf dem Podium, weit weg, am Ende des Platzes gehalten wurde, aber es war Anton gleichgültig, was der Redner sagte. Was ihm auf einmal naheging, waren all die Menschen hier, ihre bloße Anwesenheit – und er und sein Sohn gehörten dazu. Van Lennep hatte er aus den Augen verloren, aber er kam deshalb nicht auf den Gedanken, sich aus dem Staube zu machen. Es war mittlerweile ohnehin unmöglich geworden, wie zwei Halme standen sie in einem wogenden Kornfeld aus Menschenleibern, über ihren Köpfen schwebte die Sense, und Antons Angst vor einer Panik war wie weggewischt. Direkt neben ihm und fast an ihn gepreßt standen außer Peter eine provinziell wirkende ältere Dame mit einem durchsichtigen Kopftuch über dem ondulierten Haar, ein stämmiger Kerl in brauner Lederjacke mit Pelzkragen und mit einem Gesicht, das ein großer Schnurrbart und lange Koteletten zierten, und eine junge Frau mit einem schlafenden Baby in einem Tragetuch vor der Brust. Genau diese Leute standen hier, und das war gut so. Zwischen den Losungen gegen Atomwaffen las er plötzlich auf einem kleinen Schild:
    HIOB: HIER SIND SIE
    Er machte Peter darauf aufmerksam und erzählte ihm, wer Hiob war. Über Lautsprecher wurde bekanntgegeben, daß in der letzten halben Stunde zweitausend Autobusse in Amsterdam angekommen seien: noch einmal hunderttausend Menschen. Jubel, Applaus. Die Stimme meldete, daß aus den Bahnhöfen immer noch Tausende herausströmten, die mit Sonderzügen hergekommen seien; sämtliche Zufahrtsstraßen zum Museumplein seien verstopft. Daß die Stimme eines Menschen so laut gemacht werden kann, dachte Anton, hat doch auch irgendwie mit der Existenz der Atombomben zu tun. Vor siebzig Jahren war weder das eine noch das andere möglich, obwohl das, was danach auf der Erde passierte, vielleicht noch viel schrecklicher und unlösbarer war, als man dachte…
    Wie lange er so dagestanden hatte, wußte er hinterher nicht mehr zu sagen. Peter sah einen Klassenkameraden, verabschiedete sich und war auch schon verschwunden. Für einen Moment, nur ganz kurz, dachte Anton an die Bunker, die hier einmal gestanden hatten, an das Wehrmachtsheim und die deutschen Behörden in den umliegenden Villen, in denen nun die amerikanische Botschaft, die russische Handelsdelegation und die Société Générale residierten.
    Politiker wurden bejubelt, andere ausgepfiffen, und schließlich kam Schritt für Schritt Bewegung in die Menge. Da die offizielle Marschroute für all die Menschenmassen offensichtlich nicht ausreichte, zogen die Demonstrationszüge auf verschiedenen Routen in die Stadt. Eine seltsame Euphorie hatte Anton ergriffen, eine unaufgeregte Erregung, wie in einem Traum, der an etwas anknüpfte, das weit, weit
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